Neue Westfälische ,
21.03.2005 :
60 Jahre Kriegsende / 8. Mai 1945 / Flüchtlinge müssen sich neue Existenz aufbauen / Integration war in der Heimat eher eine Nebensache
Vor 60 Jahren am 8. Mai endete der Zweite Weltkrieg. Viele Menschen erinnern sich der schrecklichen Zeit. In einer Serie, die der Bielefelder Historiker Hans-Jörg Kühne in Zusammenarbeit mit dem Deutschlandfunk zusammengestellt hat, berichten wir über das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen. Unsere Zeitzeugen leben heute in Ostwestfalen-Lippe.
Heute geht es um ihre Integration - Teil 7.
Bielefeld. Ostwestfalen and Lippe waren ab 1945 Regionen mit hoher Flüchtlingsdichte. Kirchliche, kommunale and gewerkschaftliche Hilfsorganisationen, allen voran die Frauenvereine and die Arbeiterwohlfahrt, engagierten sich in der Betreuungsarbeit für die Flüchtlinge and Vertriebenen. Es galt, die Radikalisierung dieser Ärmsten unter den Armen zu verhindern. Gerade sie standen bei nicht wenigen Einheimischen im Generalverdacht, "Naziaktivisten" und "arbeitsscheue Elemente" zu sein.
Die ostpreußische Familie Schwesig traf im Februar 1946 in Bielefeld ein. Der im Dezember 1944 geborene Wolfgang Schwesig erinnert sich mit einem lachenden und einem weinenden Auge an die Erlebnisse und Entbehrungen der Nachkriegsjahre. Schon früh war ihm klar geworden, dass er in mancherlei Hinsicht ein Außenseiter war:
"Mutti hat uns auch sehr oft und nachhaltig erzählt, dass wir nicht stehlen dürfen, und das wir immer ehrlich sind. Die Flüchtlinge hatten zu dieser Zeit ja keinen guten Ruf. Es hieß oft: 'Die verfluchten Flüchtlinge'. Und wenn etwas nicht aufzufinden war, wurden zuerst die Flüchtlinge verdächtigt. Drum war unsere Mutter immer bedacht, dass wir sehr ehrlich waren und keine Sachen an uns nahmen, die uns nicht gehörten."
Einheimische Unternehmer betrachteten Flüchtlinge oft als unliebsame Konkurrenten. Dessen ungeachtet gelang es einigen der Zugereisten, erfolgreiche Firmen zu gründen. Dazu gehörte auch Herbert Lohse. Dessen Familie lebte 1945 in der sowjetischen Zone, in Reinharz.
Wohnraum bekam die Familie in einem für britische Offiziere beschlagnahmten Haus
Einer der Söhne, Uwe Lohse-Bliefernicht, schildert die Anstrengungen, die sein Vater damals unternahm, um sich eine neue Existenz aufzubauen. Nach einigen Reisen in den Westen wurde ihm die Stelle eines Materialverwalters für Baustoffe bei den britischen Besatzungsbehörden angeboten. Wohnraum erhielt die Familie in einem für britische Offiziere beschlagnahmten Haus in Petershagen. Schon bald machte sich der Vater selbstständig. Die Lebensumstände blieben hart. Uwe Lohse-Bliefernicht schreibt: "Die Flucht von Eleonore, der Schwester meiner Mutter, mit den Kindern und ihre Suche nach Arbeit führten zum Angebot meines Vaters, sie in Petershagen aufzunehmen und eine Anstellung in der geplanten Baufirma anzubieten. Die Wohnsituation wurde noch beengter durch diese drei Personen. ... Die Firma, die mein Vater aufbaute, war in den ersten Jahren erfolgreich. Sie beschäftigte zu den besten Zeiten in der Bausaison 30 Arbeiter."
Manche der ehemaligen Bewohner jener Landstriche, die nach dem Willen der Alliierten nun zu Polen gehörten, hatten derart schlimme Zeiten hinter sich gebracht, dass etwaige Schwierigkeiten bei der Integration in der neuen Heimat eher zur Nebensache wurden. So entschied sich beispielsweise der aus dem oberschlesischen Döbern stammende Peter Pollok nach seiner überaus harten dreijährigen Kriegsgefangenschaft in der UdSSR nicht zur Rückkehr in seine Heimatstadt, sondern zum Gang in den Westen:
"Ich entschied mich für die Freiheit, die Demokratie und vor allem für meine Freundin aus Glatz, die zwei Jahre später meine Frau wurde und bereits im Westen mit ihrer Familie wieder ein Dach über dem Kopf gefunden hatte. ... Wir bekamen im Laufe der Zeit zwei Mädchen und waren eine glückliche Familie. Über 25 Jahre lebten wir in der Wittekindstadt Enger. Bevor wir dann Bielefelder Bürger wurden, wohnten wir sechs Jahre in Herford, weil meine Frau gern in der Nähe ihrer Mutter in Herford sein wollte. ... Nach dem Tod meiner Schwiegermutter zogen wir nach Bielefeld zu unserer ältesten Tochter und zu unserem Schwiegersohn, die sich dort ein Haus gebaut hatten."
Uwe Lohse-Bliefernicht und Peter Pollok leben heute in Bielefeld. Wolfgang Schwesig wohnt in Detmold.
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