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Deister- und Weserzeitung , 19.03.2005 :

"Die letzten Monate werden schrecklich sein" / Das Zuchthaus in Hameln am Kriegsende: Überfüllung, Hunger, Krankheiten, Todesfälle

Von Bernhard Gelderblom

Hameln. Mit dem Herbst 1944 wurde die Situation im Zuchthaus Hameln dramatisch. Frontnahe Zuchthäuser im Westen wurden evakuiert. Hameln wurde eine Art Umschlaghafen. Anfang 1945 war das Zuchthaus mit 1.350 Insassen total überbelegt; pro Einzelzelle lagen drei bis vier Häftlinge. Auch der Keller und die Flure wurden nun mit Häftlingen belegt. Dabei kamen ständig Musterungskommissionen der Wehrmacht. Selbst Gewohnheitsverbrecher wurden gemustert und in Wehrmachts- oder Volkssturmeinheiten gesteckt.

Gegen Kriegsende herrschten auf Grund der totalen Überbelegung und Vernachlässigung derart katastrophale Bedingungen, dass in den Monaten vor und nach der Befreiung am 7. April 1945 über 390 Männer zu Tode kamen. Im Januar 1945 starben 19 Häftlinge, 33 im Februar, 62 im März, 71 im April und noch über 60 im Mai und Juni 1945. Ein Todesmarsch, auf den zwei Tage vor der Befreiung etwa 600 Häftlinge geschickt wurden, forderte weitere Opfer.

Rudi Goguel (1937 bis 1944 Häftling im Zuchthaus Hameln) schrieb damals:

"Inzwischen gibt unsere eigene Lage genug zu denken. Die Ernährung hat sich zusehends verschlechtert. Epidemien grassieren im Bau, die Todesfälle im Lazarett mehren sich. ... Ein neuer Erlass verbietet das Fressen von Kartoffelschalen. Das Stehlen roter Steckrüben wird mit Strafe belegt. Gleichzeitig wird ein jeder, der sein Pensum nicht leistet, auf verkürzte Ration gesetzt. ... Das Chaos bricht über uns herein. Mit dem Vorrücken der Alliierten in Ost und West schmilzt der deutsche 'Lebensraum' von Woche zu Woche zusammen. Gefängnisse und Lager werden evakuiert und ins Landesinnere verbracht.

Transporte aus dem Rheinland rollen an. Sie bringen eine Flut von Flöhen und Läusen mit, die sich mit Windes eileüber das ganze Haus ergießen. Platz ist nicht mehr da. Es fehlt an Kleidung, an Lebensmitteln, es fehlt an allem. Von Ordnung und Menschlichkeit ist nun keine Rede mehr. Die Dinge wachsen uns über den Kopf: Die letzten Monate in Hameln werden schrecklich sein."

Hans Bielefeld (von 1944 bis zur Befreiung im Zuchthaus) berichtete:

"Das Jahr 1944 brachte im Sommer Sammeltransporte aus Ostpreußen und Schlesien, aus Aachen, aus Prag und später aus Brandenburg. Die Zuchthäuser unter Feindeinwirkung wurden geräumt. Das waren für uns die Marksteine des Näherrückens der Front.

Mit den Transporten kamen Wanzen, Läuse und Typhus. Die Anstalt war zum Bersten voll. Geregelte Arbeit gab es nicht mehr. Wöchentlich kamen jetzt die Musterungskommissionen der Wehrmacht zu uns in den Bau. Selbst notorische Ausbrecher und Gewohnheitsverbrecher wurden angemustert. Das Geschwür war reif. Und in das Grauen dieser Monate fiel wie ein Hoffnungsschimmer die schwache Aussicht auf eine baldige Befreiung.

Inzwischen aber hielt Freund Hein noch reiche Ernte. Die Männer, die an dem langen Arbeitstisch neben mir und mir gegenüber sitzen, wechseln im Laufe einer Woche oft mehrmals. Abgänge, Zugänge - Zugänge, Abgänge. Der Nachschub rollt. Das Rapportbuch aber auf dem Tisch des Beamten, wo die kleine schwachkerzige Birne brennt und jeden Morgen die Bestandsmeldungen eingetragen werden, das spricht eine deutliche Sprache für uns, die wir eingeweiht sind: 7. September. Zwei Abgänge ins Lazarett. 8. September. Ein Abgang ins Lazarett. 9. September. Drei Abgänge ins Lazarett.

Die meisten von uns sind zu apathisch, um noch denken zu können. Sie lassen sich treiben. Sie haben kein Rückgrat mehr. Die Krätze greift um sich und die Wassersucht. Die Körper von vielen sind mit eitrigen Geschwüren und Hautausschlägen übersät. Einige können ihren Kot nicht mehr bei sich behalten. Arzneimittel fehlen. Das Lazarett reicht nicht mehr aus. Salzlose Kost soll helfen; aber der Typhusbazillus ist schneller als die alliierten Truppen.

Unser Bau ist zum Platzen voll. Arbeitskommandos gehen nicht mehr raus. Alle Ein-Mann-Zellen sind mit drei und vier Mann belegt. Seit Wochen haben wir keine Wäsche mehr erhalten; die Läuse und Wanzen fressen uns auf. Wir sind stumpf geworden gegen den Gestank von Schmutz und Unrat in unserer Zelle. Eine bleierne Lethargie lastet über uns allen."

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19./20.03.2005
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