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Mindener Tageblatt , 21.02.2005 :

Wieviel Anfang war 1945? / Erstes Kulturgespräch der VHS / Von der Nachkriegszeit zur Gegenwart

Minden (mar). Ein US-Soldat am Bücherschrank, der den 17-jährigen Ex-Flakhelfer fragt, was er von Karl May hielt - diese Wohnzimmerszene in einem Dorf in Franken symbolisiert für Hermann Glaser das Kriegsende 1945. Heinz Wähler, ein Jahr jünger als Glaser, wurde nach einem kurzen Hausarrest als potenzieller "Werwolf", in Petershagen von der kanadischen Armee nach Minden entlassen.

Von Martin Steffen

Der Historiker und Kulturexperte Professor Hermann Glaser diskutierte am Samstag beim VHS-Kulturgespräch im Mindener Stadttheater mit dem früheren MT-Chefredakteur Heinz Wähler über das Thema "Viel Anfang war nie ... ? 60 Jahre Kriegsende."

Persönliche Erfahrungen einerseits, Deutungen mit Abstand andererseits, Reaktionen auf Publikumsfragen rund um ein spannendes Thema. Das hätte mehr Publikum verdient - auch wenn diejenigen, die in den Sitzreihen mehr Platz als nötig vorfanden, wohl aus echtem Interesse kamen. Glaser hatte zur Beschreibung der Zeit vor 60 Jahren den Ausdruck der "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" benutzt. Abgewandelt passte das Sprachbild auch als Fazit des Kulturgesprächs: Packende Themen einerseits, sich dann manchmal im Assoziativen verlierende Beiträge andererseits. Nach über zwei Stunden das Bedürfnis, mehr erfahren zu wollen und zugleich der erleichternde Gang an die frische Luft.

"Neubeginn inhaltlich oft überschaubar"

Gleichzeitig-ungleichzeitig war 1945 für Glaser zum Beispiel dass beim Einmarsch der Roten Armee im Osten Deutschlands Plünderung und Vergewaltigung an der Tagesordnung waren, während sowjetische Kulturoffiziere, praktisch noch in der Stunde Null sich bemühten, ein durchaus bürgerliches Kulturleben in Gang zu bekommen.

In allen Besatzungszonen sei Kultur ein "Überlebensmittel" gewesen, betonte Glaser und schilderte die emotionalen Reaktionen auf die erste Friedenspremiere des Theaters im zerbombten Nürnberg. Das Ausmaß des inhaltlichen Neuanfangs sei oft überschaubar gewesen, erinnerte er an das Unterhaltungsgenre, in dem vor-1945er Stars wie Marika Rökk und Johannes Heesters schnell wieder da waren - und wo andererseits vor 1945 auch NS-kritische Autoren wie Erich Kästner "überwinterten."

Problematischer die Schulen: "Von unseren Lehrern hat sich nach 1945 keiner politisch geäußert", erinnerte sich Heinz Wähler. Weder die NS-Zeit, noch die neuen Verhältnisse seien kommentiert worden: Viele hätten damit rechnen müssen, darauf hingewiesen zu werden, kaum ein Jahr zuvor noch das Parteiabzeichen getragen zu haben, sagte Wähler.

Glaser und Wähler bezogen sich beide auf den kulturellen Einfluss der westlichen Sieger: Während amerikanische Theateroffiziere auch das deutsche Kulturleben in den Blick genommen hätten, waren nach Heinz Wähler die Briten als Mindens Besatzungsmacht zunächst restriktiver - auch deshalb, weil sie große Teile der Stadt samt Theater und Kino zunächst beschlagnahmt hatten: Oeynhausen und Minden beherbergten ihr Hauptquartier in Deutschland. Doch auch in Minden habe es nach 1946 am Ort des heutigen Theatercafés einen Lesesaal des deutsch-englischen Begegnungsvereins "Die Brücke" gegeben. "Da konnte man britische und amerikanische Zeitungen lesen. Tee auf englische Art gab’s auch."

Heinz Wähler schilderte auch den Einsatz von Einzelnen, Vereinen und privaten Freundeskreisen im Mindener Kulturleben der Nachkriegszeit, was die Gesprächspartner samt Moderator Udo Witthaus und dem Publikum bei Fragen rund um Kulturbetrieb und Finanzierung landen ließ. Hermann Glaser plädierte für eine Unterstützung bürgerlicher und soziokultureller Aktivitäten durch öffentliche Hand und Politik - auch als Gegengewichte zum Vordringen des "shareholder value". Er zeigte sich allerdings pessimistisch angesichts eigener Erfahrungen mit einer Arbeitsgruppe des Deutschen Städtetages in den 90er Jahren. Dort hätten Experten sich Gedanken über eine langfristige "antizipatorische Finanzierung" von Kultur gemacht, ohne dass die Ideen auf die Entscheidungsebene vorgedrungen seien.


mt@mt-online.de

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