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Höxtersche Kreiszeitung / Neue Westfälische , 22.02.2005 :

"Wir mussten da alleine durch" / Buchautor Fritz Wiesemann erinnert sich an die Schrecken des 22. Februars 1945

Von Holger Kosbab

Ottbergen. "Wir sind mit dem Fahrrad auf der Reichsstraße 64 nach Hause gefahren und bei Klein Hamburg erzählte mir meine Tante, dass es am Morgen einen Jagdbomberangriff auf den Bahnhof gegeben hat." Friedrich Wiesemann, von allen Fritz genannt, weiß noch genau, was am 22. Februar 1945 geschah. Dass die alliierten Bomber bei ihrem Angriff den Bahnhof verfehlen sollten, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannt. Als er daheim angekommen war, berichtete seine Mutter von Attacken auf Züge. Doch das schlimmste sollte erst noch kommen.

Später erkannte man die Zusammenhänge der Flüge über Ottbergen: Innerhalb der Aktion "Clarion" versuchten Amerikaner und Engländer alle kleineren Verschiebebahnhöfe still zu legen. Insgesamt 1.300 fliegende Festungen tummelten sich in der Luft. Als sie erstmals über sein Elternhaus hinweg flogen, wo er in diesem Moment mit seinen Brüdern Johannes, Ludwig (beide leben noch heute in Ottbergen) und Heinrich, seiner Mutter Ludovine und Großmutter Elisabeth war, rief er: "In den Keller!" Doch dieses Mal war es noch ein Fehlalarm. Der damals 15-Jährige kam wieder heraus. Und sah mit weißem Rauch gesetzte Angriffszeichen.

Wieder ging es ins Kellergeschoss. Als die Bombenabwürfe vorüber waren lief Wiesemann mit seinem Schulkollegen Richard Zurwehme zur Hindenburgstraße, in der allein 27 Ottberger ihr Leben verlieren würden. "Auf der linken Seite waren drei Häuser total zerstört. Auch rechts war ein Haus, in dem viele Leute umgekommen sind", erinnert sich Wiesemann: "Wir haben überlegt, wo die Leute sein könnten." Viele würden später im Keller des Hauses Scheideler, Hindenburgstraße 3, zum Vorschein kommen. Dort starben drei ganze Familien. Erstickt. Verschüttet. "Im Haus Nr. 1, dem der Familie Spieker dagegen", so Wiesemann, "haben fünf Personen überlebt".

An diesem Tag hatte der heute in Dortmund lebende Wiesemann erstmals einen Mann laut weinen gesehen. Und gehört: "Ich bin dort hin gerannt. Seine Frau und seine Tochter wurden tot geborgen."

Später saß er mit vielen anderen abermals im Keller. Diesmal in dem des zerstörten Hauses Scheideler. Nicht mehr Bomber zwangen sie dazu, sondern Jagdflieger. Moskitos, weiß Wiesemann. Da sie "von vorne und hinten schossen", erklärt er, musste man sich auch nachdem sie über einen hinweg gedüst waren noch mit einem Sprung in einen Bombentrichter retten.

Die Uhren hielten den exakten Angriffszeitpunkt fest. Sie waren stehen geblieben. Die ersten um 14. 15 Uhr, die letzten gegen 16 Uhr. Knappe zwei Stunden, die das Leben von insgesamt 90 Menschen forderten. Neben der Hindenburgstraße hatte es die Adolf-Hitler-Straße mit 17 und die Brakeler Straße mit 20 Opfern besonders hart betroffen. Knappe zwei Stunden, die das Leben vieler auf den zerstörten Steinäckern veränderten. Familien, die trauerten. Paare, die auseinander gerissen wurden. "Ein Mann hat mit einer Gräpe im Schutt nach seiner Familie gesucht und gegraben", beschreibt Wiesemann eine der schrecklichsten Erfahrungen.

Um Verletzte transportieren zu können nahm man abgeschlagene Gartenzäune. Nach einer bis Mitternacht durchgeführten Feuerwache fiel Wiesemann schließlich total erschöpft in sein Bett. Der älteste Bruder, Josef, hatte das alles nicht miterlebt - er war zu einer Untersuchung beim Bahnarzt in Altenbeken. Auch sein Vater, ein Bahn-Schlosser, war wegen eines Einsatzes unterwegs gewesen.

60 Jahre später hat Fritz Wiesemann diese Bilder immer noch vor Augen. "Das Schlimmste war, dass so viele Menschen umgekommen sind, vor allem auch Kinder", erzählt er mit leicht bebender Stimme. Hilfe zur Bewältigung des Erlebten gab es nicht. "Wir brauchten keinen, der das mit uns verarbeitet - wir mussten da allein durch." Vermutlich hätte es auch kaum einen Seelsorger gegeben.

Niemals wird Wiesemann den Anblick einer Frau vergessen, die zwei Tage später entdeckt wurde und nur durch ihren Ring identifiziert werden konnte. Seine Erinnerungen an die gestorbenen Kinder, mit denen er immer auf den Feldern, den Steinäckern, gespielt hat, erlöschen ebenso wenig wie die an die toten Mädchen Scheideler. Wilhelmine, Margarete, Hildegard, Ruth. An das jüngste Kind Josef Scheideler. Und an ihre Eltern Johann und Clementine.

"Alle sind tot." Auch nach 60 Jahren wirkt Wiesemann bei dieser Aussage noch unsicher. Daran konnte auch das Niederschreiben der Erfahrungen des 22. Februar 1945 und deren Veröffentlichung im Buch "Ottbergen - Mein Heimatdorf und seine Geschichte" nichts ändern. Am Sonntag, 27. Februar, wird es in der Ottberger Kirche keine Predigt geben. Stattdessen wird Fritz Wiesemann mit ähnlichen Worten den 60. Jahrestag ins Gedächtnis zurück holen.


lok-red.hoexter@neue-westfaelische.de

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