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Höxtersche Kreiszeitung / Neue Westfälische , 19.02.2005 :

Erinnern, nicht vergessen / Scheideler und Nolte erstellen Schau zum Luftangriff auf Ottbergen / Bahnhof brachte Glück und Leid

Von Holger Kosbab

Ottbergen. Das wichtigste Ereignis ist aus seiner Sicht die Zusage an Ottbergen, Eisenbahnstandort zu werden und der Bau der Linie Ottbergen - Northeim in den Jahren 1873 bis 1878. Der Mann, der dieses sagt, ist Bernhard Scheideler. Ottberger, Jahrgang 1940. Es ist leicht zu berechnen, dass er heute 64 ist. 60 Jahre zurück liegt eine andere Marke, die das Eisenbahnerdorf ebenso geprägt hat und mit der umjubelten Bahnanbindung untrennbar verbunden ist: der 22. Februar 1945.

Wäre die Bahn nicht gekommen, hätte es wohl auch nicht die Bombenabwürfe an jenem Donnerstag gegeben, die sich wie wenig sonst ins kollektive Ottberger Gedächtnis eingebrannt haben. Verschiebebahnhof und Stellwerk waren Ziele der alliierten Luftangriffe, erzählt Scheideler. Er selbst war damals viereinhalb. Zu jung, um selbst alles in Erinnerung zu behalten. Doch eine Szenerie des 22. Februars hat auch er verinnerlicht: das Bild getroffener, verbogener, senkrecht nach oben stehender Bahnschienen.

Josef Lüke war damals zwölf. "Wenn man erst einmal anfängt zu erzählen, dann kommen die Erinnerungen wieder", sagt der 62-Jährige. Er wohnte in der Bruchhäuser Straße und hat den ersten leichten Angriff des Donnerstagmorgens miterlebt. Und er hat das Bombardement verfolgt. Hat gesehen, wie die Flugzeuge ab 14 Uhr sich von Südost näherten. Von Kreiensen über Northeim, Uslar und Meinbrexen hatten die Maschinen vom Typ "Mosquito" eine Schleife geflogen, deren letztes Ziel der Höxteraner Vorort sein sollte.

Die von England gestarteten amerikanischen Maschinen verfehlten ihre Ziele jedoch weitgehend. Weder der strategisch bedeutsame Bahnhof noch die Ottberger Papierfabrik, die damals eine Waffenschmiede gewesen sein soll und die bald 400 Jahre alt wird, wurden getroffen. Stattdessen ging ein hochexplosiver Hagel auf die Zivilbevölkerung nieder. Die Bilanz des in zwei Wellen geflogenen "Terrorangriffs", wie es offiziell hieß, war für Ottbergen ein gewaltiger Schicksalsschlag: 90 zum größten Teil in dem kleinen Dorf lebende Menschen starben. "Das sind rund fünf Prozent der Einwohner", ergänzt Scheideler.

Viele Personen starben in der Siedlung am Steinäcker. Noch geballter war der Schrecken - 50 Tote - im Tunnel am Sprung unter der B64. Den unmittelbar über den Köpfen der Schutz Suchenden nieder gehenden Bomben hielt der ausgewiesene Bunker Stand.

Zum Verhängnis wurden die Abwürfe an den Ausgängen. Die Lungen der Menschen sind wohl durch die Wucht der Detonation geplatzt, vermutet Scheideler. In den ersten Jahren danach habe seine Schulklasse in Gummistiefeln am 22. Februar eine Art Schweigemarsch durch den Tunnel unternommen.

Zum 60. Jahrestag ist Scheideler Sammler geworden. Das heißt, gesammelt hat er auch vorher schon, hat 25 Jahre lang querbeet Zeitungsartikel ausgeschnitten. Verstärkt und mit mehr System betreibt er das erst seit fünf, sechs Jahren. Jetzt sammelt er alles, was er zur Geschichte seines Heimatdorfes in die Finger kriegen kann. Seitdem sich in Ottbergen 2001 eine Kulturvereinigung gründete, gibt er mit einigen anderen die "Ottberger Drehscheibe" heraus. Halbjährlich versorgt er die Menschen im Ort mit aktuellen Themen - und mit Erinnerungen. Die "Drehscheibe" erinnere vor allem an den Eisenbahnerort. "Drehscheibe ist nicht Stillstand", sagt er, "und genau so sehe ich Geschichte".

Der langjährige Leiter des Schul- und Kulturamtes im Kreis Höxter hat ein Nahziel: den 27. Februar 2005, wenn er gemeinsam mit Hans Nolte mit Fotos und Texten an den 60 Jahre zurück liegenden Schrecken erinnern möchte. Am Rande eines Gottesdienstes in der Ottberger Kirche, in der es anstatt einer Predigt Erinnerungen des Zeitzeugen Friedrich Wiesemann geben wird. Der hat das bekannte Ottbergen-Buch geschrieben, in dem auch Lüke nach 40 Jahren seine Gedanken aufgeschrieben hatte und das auch Scheideler und Nolte als Roter Faden dient.

Josef Lüke ist eher ein Geschichtenmensch. Was er erlebt hat, ist auch 60 Jahre später noch präsent: Daten, Wochentage, Ereignisse. "Es war für uns als Kinder auch spannend", schildert er, "als die Flugzeuge Kassel angegriffen haben und der Himmel in der Nacht taghell war". Doch auch in seinem persönlichen Rückblick ist der 22. Februar 1945 ein ganz besonders schrecklicher Tag.

Bis zum 27. Februar muss Scheideler alles, was er zum Februar 1945 in seinem vor Akten und Fotos überquellenden Kellerbüro gesammelt hat, sortiert und gesichtet haben. Dabei hat er aus dem Stadtarchiv Höxter und aus Privatbeständen Interessantes zusammengetragen. Auf der Suche nach Todesanzeigen hat er alte Zeitungen durchblättert. Lediglich drei, davon keine eines Ottbergers, hat er im "NS-Volksblatt für Westfalen" gefunden. Ebenso fiel ihm auf, dass die erste Publikation, die an den 22. Februar erinnert, die "Freie Presse" (heute Neue Westfälische) war. Und zwar zum zehnten Jahrestag im Februar 1955. Bis dahin, so scheint es, wurde darüber nicht berichtet. Im Fokus der Bevölkerung stand da wohl schon wieder die Eisenbahn.

600 bis 700 Menschen, ganz Ottbergen, lebte von der Nachkriegszeit bis in die Siebziger vom Güter- und Personenverkehr des Schienenknotens. "Die Eisenbahn hat Ottbergen groß gemacht", weiß Scheideler. Und sie hat mittelbar die Gräber für die 90 Toten geschaufelt.

Bernhard Scheideler will, dass der Schrecken folgenden Generationen bewusst ist. Dass sich auch Kinder die Schautafeln in der Kirche anschauen: "Und auch wenn die nur aus einer Klasse kommen, sollen sie wissen, dass es 1945 etwas gab."

19./20.02.2005
lok-red.hoexter@neue-westfaelische.de

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