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Bielefelder Zeitung / Westfalen-Blatt , 08.09.2015 :

80 Grad: Kinderquälerei in der Bleiche / Früherer Zwangsarbeiter besucht ehemalige Brackweder Textilfabrik, in der er als Junge vor 70 Jahren geschunden wurde

Von Markus Poch

Brackwede / Stukenbrock (WB). "Du bist alt genug. Du musst Dir Dein Essen selbst verdienen!" 1943, als der Russe Vladimir Naumov diese Ansage bekommt, ist er elf Jahre alt und damit jüngster Zwangsarbeiter in der Friedrich-Wilhelms-Bleiche in Brackwede, einer Außenstelle des Stalag 326 Stukenbrock. Bis Kriegsende muss er dort körperliche Schwerstarbeit leisten - zehn Stunden täglich. Gestern kehrte Naumov, inzwischen 83, an den unheilvollen Ort seiner Kindheit zurück.

Die Bleiche existiert schon lange nicht mehr. Mehrere Betriebe unterschiedlichster Branchen teilen sich inzwischen die maroden Reste der alten Industriehallen zwischen Quelle und Brackwede, die noch nicht abgerissen wurden. Und auch im Leben des kleinen Vladimir hat sich seit der Befreiung im April 1945 durch die Amerikaner viel verändert: Er schließt die Oberschule mit Bravour ab, studiert Reaktorphysik in Moskau, wird wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Physik und hat dort bis zur Emeritierung eine Professur inne.

Heute nutzt er jede erdenkliche Möglichkeit zur Völkerverständigung und dazu, die Erinnerung nachfolgender Generationen an die Verbrechen des Faschismus wach zu halten. "Wenn Du Deine eigene Geschichte nicht kennst, dann machst Du dieselben Fehler immer wieder", sagt Naumov mahnend. Eine Woche lang ist er gerade in Deutschland zu Besuch, um Freunde in Düsseldorf und Detmold zu treffen sowie Enkelsohn Vanya (23), der in Hamburg seine Doktorarbeit schreibt.

Am vergangenen Wochenende war der Physik-Professor als Ehrengast und einer der letzten Überlebenden des Stalag bei der jährlichen Gedenkfeier zum Antikriegstag auf dem sowjetischen Soldatenfriedhof in Stukenbrock. Dort sprach er auf Einladung des Vereins "Blumen für Stukenbrock", deren Mitglieder Edeltraud und Jochen Schwabedissen ihn und seine Frau Valentina (78) gestern auch nach Brackwede begleiteten.

Im Anschluss an einen Empfang im Bezirksamt bei stellvertretendem Bürgermeister Peter Diekmann und Heimatkenner Karl Beckmann ging es in die Lutteraue zur Friedrich-Wilhelms-Bleiche. Dort hatte sich Vladimir Naumov als Kind geschunden und mit ihm taten das acht weitere Familienmitglieder, darunter zwei ältere Geschwister und seine Großmutter. Sie alle waren von der deutschen Wehrmacht aus Smolensk verschleppt und nach Soest gebracht worden, fanden sich dort auf einem Sklavenmarkt für Ostarbeiter wieder. Ein Textilfabrikant aus Bielefeld nahm sie mit.

"Ich musste den ganze Tag feuchte Stoffe schleppen und sie zum Trocknen in eine Maschine stopfen", erzählt Naumov. "Wenn die Maschine mal kaputt war, musste ich hinein kriechen, den Fehler finden und ihn beheben - das Ganze bei Temperaturen von bis zu 80 Grad." Nach einer Weile sei er von dieser Arbeit krank geworden und bekam eine andere Aufgabe: das Anfeuchten und Schleppen zu trockener Stoffbahnen.

In der Bleiche waren seinerzeit, wie Karl Beckmann recherchiert hat, ungefähr 80 Kriegsgefangene zum Arbeitsdienst beschäftigt. "Die anderen haben oft versucht, meiner Familie und mir moralisch beizustehen", erzählt Vladimir Naumov. Er selber durfte manchmal, was ihn sehr stolz machte, den Pfeifton der großen Dampfmaschine betätigen, der morgens um 7 Uhr den Arbeitsbeginn einläutete. Das Schlafen sei nicht immer angenehm gewesen: Mit bis zu 24 Personen übernachteten sie in Doppelstockbetten in einem Keller direkt unter der Fabrik. Zu essen gab es sehr oft eine dünne Steckrübensuppe.

Mehrfach hatten die Naumovs Todesangst, als englische und amerikanische Kampfflieger in der Nachbarschaft die Brackweder Ruhrstahl-Werke bombardierten und man sich nirgends in Sicherheit bringen konnte. Trotz aller Erniedrigungen und Entbehrungen haben sämtliche Familienmitglieder die Kriegsgefangenschaft überlebt. Im September 1945 kehrten sie nach Moskau zurück. Der kleine Vladimir sah endlich seine Eltern wieder.

Bildunterschrift: Hinter diesen Mauern musste er als Elfjähriger zehn Stunden täglich hart arbeiten: Der frühere russische Zwangsarbeiter Vladimir Naumov (Mitte,
mit Ehefrau Valentina Naumov) an der ehemaligen Friedrich-Wilhelms-Bleiche, wo er von 1943 bis 1945 mit acht weiteren Familienmitgliedern festgehalten wurde. Auf seiner Erkundungstour 70 Jahre später begleiteten ihn gestern (vorne, von links) Heimatkenner Karl Beckmann, Dolmetscherin Anna Stupko und stellvertretender Bezirksbürgermeister Peter Diekmann sowie (dahinter, von links) Edeltraud und Jochen Schwabedissen (Arbeitskreis "Blumen für Stukenbrock"), Lisa Hoffert und Ina Trüggelmann (Stadtbezirk Brackwede).

Bildunterschrift: Vladimir Naumov im Herbst 1945.

Bildunterschrift: "Hier war früher die Küche": 70 Jahre nach seiner Zeit als Zwangsarbeiter erkennt Vladimir Naumov einige Ansichten und Gebäude der früheren Friedrichs-Wilhelm-Bleiche sofort wieder.


bielefeld@westfalen-blatt.de

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