Löhner Nachrichten / Neue Westfälische ,
15.01.2005 :
"Von hier kommen nur wenige zurück" / Im Nachlass seiner Mutter fand Andreas Bergen erschütternde Briefe seines 1942/43 verschollenen Vaters
Von Jürgen Nierste
"Ich bin jetzt auf der Reise in den weiten Norden. Welche Stelle, weiß ich nicht. Von hier kommen nur wenige Männer zurück."
Löhne. Über 60 Jahre alt sind diese erschütternden Zeilen. Der 1942 oder 1943 verschollene Jakob Bergen schrieb sie aus einem russischen Arbeitslager an seine Frau Aganeta. Sein in Gohfeld in der Straße Am Mittelbach lebender Sohn Andreas hält sie erst jetzt, zwei Monate nach dem Tode seiner Mutter, erstmals in Händen.
"Meine Mutter hat die Briefe meines Vaters gehütet wie einen Schatz. Zusammen mit einem alten Schwarzweißfoto waren es ihre einzigen Erinnerungen an meinen Vater", erzählt Andreas Bergen.
Sein Vater, Jahrgang 1911, lebte in einer Kleinstadt am Ural. Im Russland unter dem Diktator Josef Stalin wurde Jakob Bergen, der gebürtige Deutsche, im Jahr 1942 im Alter von 31 Jahren ohne Angabe von Gründen verhaftet und musste in Arbeitslagern schuften.
11. April 1942: "Uns schicken sie von dieser Stelle weg, so ungefähr 100 Kilometer. Wir müssen zu Fuß dorthin gehen. Auf Wiedersehen und lebe wohl mit den Kindern zusammen. "
Jakob Bergen schrieb in seiner deutschen Muttersprache, aber in Sütterlinschrift, die seine Familie heute kaum mehr entziffern kann. Andreas Bergens schon 90 Jahre alter Schwiegervater Heinrich Töws hat die vergilbten Papiere in den letzten acht Wochen fein säuberlich in heutige Schrift übertragen und abgetippt.
16. April 1942: "Noch arbeiten wir nicht, deshalb können wir auch nichts Schlechtes sagen. Aber es geht ja alles im Handumdrehen, so dass wir nicht wissen, was morgen sein wird. ( ... ) Was ihr nicht lesen könnt, das ratet."
Andreas Bergen tippt auf diese vergilbten Zeilen: "Alle Briefe aus den Arbeitslagern wurden zensiert. Über die Zustände durfte nichts nach außen dringen." Deshalb wohl, so der Sohn, seien sich alle Briefe seines Vaters auch recht ähnlich: "Mehr als zu schreiben, 'Wie geht es euch?' und Grüße und gute Wünsche übermitteln durften die Insassen nicht."
29. April 1942: "Meine Arbeit ist Holzarbeit. Hier ist es immer noch kalt. Der Frühling ist hier später als bei uns. Wie es mir geht, das könnt ihr euch vorstellen."
Seine Mutter habe ihm manchmal einige Zeilen aus den Briefen vorgelesen, so Andreas Bergen: "So wusste ich zwar aus ihren Andeutungen vom Schicksal meines Vaters. Aber aus der Hand gegeben hat meine Mutter die Dokumente nie."
25. Mai 1942: "Wenn nur mehr zu essen wäre. Ich habe schon das Laken gegen Kartoffeln eingetauscht, weil ich nicht hungern wollte. Jetzt wird wohl die Decke an die Reihe kommen, denn der Hunger tut weh und von einem Ende ist noch keine Spur."
Jakob Bergen schrieb zunächst alle paar Wochen nach Hause, dann in immer kürzeren Abständen, auch wenn er nicht viel zu berichten hatte oder nicht viel berichten durfte. Das Schreiben war seine einzige Verbindung zu seinen Lieben und die Gedanken an Frau und Kinder waren das wohl einzig Positive in seinem Häftlingsleben.
8. Juni 1942: "Nun, ich glaube, Gott wird uns nicht verlassen. Briefe bekomme ich sehr schlecht. Wenn ich diesen schicke, schreibe mehr und warte nicht immer."
"Meine Mutter hat später nie wieder geheiratet, obwohl sie nur fünf Jahre lang mit meinem Vater zusammen war. Das war bei der Generation unserer Eltern aus religiösen Gründen gar nicht anders denkbar", erzählt Andreas Bergen. Bis zu ihrem Tode, so der Sohn, habe seine Mutter Aganeta sich jahrzehntelang an die Hoffnung geklammert, dass ihr Mann vielleicht doch noch zurück kehrt.
10. Juli 1942: "Schicke mir 100 Rubel. Wenn Du kannst, noch mehr, denn ich bin in einer üblen Lage, wie Du Dir auch selber denken kannst. ( ... ) Ich kann es nicht fassen, dass unser Leben so kurz sein wird und in einer solchen Lage ein Ende nehmen soll. Aber man muss den Mut nicht sinken lassen."
Das war Jakob Bergens letztes Lebenszeichen.
15./16.01.2005
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