Schaumburger Zeitung ,
30.12.2004 :
Sturm von zwölf Beaufort bei Sonnenschein und Nebel / Im Simulatorenzentrum der Heeresfliegerwaffenschule ist nahezu alles möglich / Technologischer Quantensprung
Von Herbert Busch
Bückeburg. Regen bei strahlend blauem Himmel? Sonnenschein unterhalb einer Nebelsuppe? Obendrein ein Sturmgebrausvon zwölf Beaufort? "Alles ist möglich", sagt Hauptmann Dirk Holm-Bertelsen. Er huscht in Windeseile mit der Computermaus über einen befehlsbespickten Bildschirm und liefert behände den Beweis seiner nassforschen Behauptung: Unvermittelt wird aus einem Schönwetterflug – jetzt melden die Instrumente zusätzlich einen Ausfall des Heckrotors – ein kaum zu beherrschender Luftritt, dem in der Realität ein desaströses Ende gewiss wäre.
"Alles halb so wild", sagt ein überaus entspannt im Cockpit eines Hubschraubers sitzender Pilot, zieht die Maschine beinahe senkrecht in die Höhe und lacht sich leise ins Fäustchen, als er erkennt, dass es dem Mitflieger eine gehörige Portion Mulmigkeit in die Magengegend verschlägt. "Wir sollten die Heimreise antreten", meint er mitfühlend. Während der Abschlussrunde über dem Areal des Bückeburger Bundeswehrflugplatzes erschließen sich die Möglichkeiten der virtuellen Welt vollends. "Wir werden gleich die große Halle überqueren, in der wir uns in diesem Augenblick befinden", teilt der Flugzeugführer mit. Und in der Tat: Am Boden der verglasten Helikopter-Kanzel taucht das Simulatorenzentrum der Heeresfliegerwaffenschule auf.
"Alles in allem 154 Millionen Euro", sagt Karl-Heinz Adams, seien bislang in das Zentrum investiert worden. Der Oberstleutnant kennt sich sowohl in der von riesigen Computern vorgegaukelten als auch in der realen Welt aus. Er ist Leiter des Zentrums, in dessen Vorläufer vor beinahe 30 Jahren Piloten erstmals vom Original aufs originalgetreu anmutende Modell wechselten. Seit der Aufnahme des Betriebs wurden im Bückeburger System in insgesamt 147.000 Stunden 8.200 Hubschrauberführer aus- und weitergebildet. Was – in "richtigen" Drehflüglern geflogen – Kosten von weit mehr als einer Milliarde Euro verursacht hätte.
Adams spricht von einem "technologischen Quantensprung", wenn er die Anfänge mit der Gegenwart vergleicht. Die aktuellen Systeme, mit denen die Hubschraubertypen UH-1 D, CH-53 und EC-135 trainiert werden können, stehen überdimensionalen Straußeneinern gleich in einer 60 mal 80 Meter umfassenden Halle. Die Stempel der 13,5 Tonnen schweren Türme reichen sechs Meter tief in den Betonboden. 1.500 Liter Hydraulikflüssigkeit sorgen mit 118 bar für den nötigen Druck, um die Kanzel in Bewegung zu bringen. Wenn zwölf Simulatoren gleichzeitig in Betrieb sind, ist eine Stromzufuhr von 4,2 Megawatt nötig. Das entspricht in etwa dem Energieverbrauch einer Kleinstadt.
Über die Kanzel wölbt sich ein 7,30 Meter Durchmesser großes Dom-Sichtsystem, auf dem acht über eine Spiegelkonstruktion miteinander verbundene Projektoren ein 42 Quadratmeter großes Landschaftsbild abbilden – 240 Grad horizontal und 90 Grad vertikal. Das zu erfliegende Gelände entspricht mit einer Größe von 250 mal 300 Kilometern dem Raum zwischen Itzehoe und Kassel sowie zwischen der niederländischen Grenze und Braunschweig. Mit bis zu 30.000 Objekten lässt sich die Datenbasis dreidimensional aufwerten. Die Sicht ist der Realität täuschend ähnlich.
Nicht nur die Sicht. Die Tüftler haben nicht vergessen, selbst die Vibrationen des Rotors mittels eines Rüttelgenerators realistisch in den Sitz einzuspielen. Mit dem "Popometer", heißt es, sollen erfahrene Piloten die Drehzahl bestimmen können. Flugtechnisch stehen die Simulatoren den Originalen beinahe in nichts nach. Lediglich zum Üben bodennaher Manöver gehen die Soldaten an der frischen Luft in dieselbe. An- und Abflüge im Gelände sowie zu und von Flugplätzen können – Formationsflüge inklusive – nahezu komplett im Simulator erlernt werden. Das Ausbildungsprogramm umfasst Grundmanöver, Tiefflug, Notverfahren, Navigation und Gebirgsflug sowie Instrumenten- und Nachttiefflug (mit einer Bildverstärkerbrille).
Jeder Flug findet in Echtzeit statt und wird wie eine reale Flugstunde gewertet. Jeder "Landung" folgt eine Nachbesprechung an einem Debriefing-Terminal. Hier lassen sich einzelne Manöver wiederholen. Der Fluglehrer kann während des Fluges Szenen speichern und sie anschließend auf dem Bildschirm in unterschiedlichen Perspektiven darstellen. Selbst ein – in der Wirklichkeit eventuell mit Knochenbrüchen verbundener – Crash kann per Computer mühelos und mehrmals wiederholt werden. Wegen der Realitätsnähe wird gegenwärtig diskutiert, den Simulator-Piloten nach dem "Flug mit Bodenhaftung" etliche Stunden lang das Autofahren zu untersagen.
"In ganz Europa gibt es kein Zentrum für Hubschraubersimulatoren, dass sich mit dieser Anlage messen könnte", umschreibt Adams Leistungsfähigkeit und Größe der Bückeburger Einrichtung. Ziel der Schule, die seit diesem Jahr für die Hubschrauberführergrundausbildung der Teilstreitkräfte Heer, Luftwaffe und Marine zuständig ist, sei, künftig bis zu 70 Prozent der Ausbildung im Simulator durchzuführen. Beim Transporthubschrauber CH-53 koste die Ausbildung ohne Simulator etwa 1,5 Millionen Euro, mit dem angestrebten Simulatoranteil nur 0,5 Millionen, verdeutlicht der Oberstleutnant das beträchtliche Einsparungspotential.
Trotz aller Erfolge erkennt Adams, bedingt durch den weltweiten Einsatz der Bundeswehr in Krisengebieten, einige Ausbildungslücken. Insbesondere in der Bedrohung durch radar- und/oder lasergesteuerte Flugabwehrsysteme sei derzeit lediglich eine Anfangsausbildung der Besatzungen erreichbar. Es fehle ein taktisches Szenario, mit dem eine realistische Bedrohung eingespielt und die richtigen Reaktionen im Cockpit sowie lebensrettende Ausweichmanöver bis zur Perfektion trainiert werden könnten.
Ungeachtet der Lücken blickt der Oberstleutnant stolz auf das bisher Erreichte: "Die Heeresfliegerwaffenschule hat den entscheidenden Schritt hin zu einem Kompetenzzentrum der Hubschrauberfliegerei auf Europa-Ebene vollzogen." Das auf nationaler und internationaler Ebene erkennbare Interesse an der Entwicklung in der ehemaligen Residenzstadt sei Ansporn und Herausforderung zugleich.
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