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Lippische Landes-Zeitung , 12.11.2001 :

Band zwischen Gestern und Heute / Symposium über NS-Lager und Deportationen in Italien

Detmold (upf). "Der Tod war unter den Nazis keine Bestrafung. Er war eine Gewohnheit. Um die Feinde zu bestrafen, brauchte man etwas mehr als den Tod." 180 Kalorien am Tag, bis ans Lebensende, das war die Bestrafung, die Vittore Bochhetta im KZ Flossenbürg bekam, genau wie alle anderen. Er kam trotzdem mit dem Leben davon. Der heute 83-jährige Literaturprofessor schilderte am Wochenende in Detmold eindringlich das Grauen, das er in den letzten beiden Kriegsjahren erlebte. Das Symposium im Staatsarchiv "Von Italien nach Auschwitz" beschäftigte sich insbesondere mit den Ereignissen in und den Deportationen aus den italienischen Lagern Fossoli und Bozen in den Jahren 1944 und 1945.

Vittore Bochhetta hat etwas zu sagen. Nicht nur in den Szenen, die er aus dem Lager Hersbruck, einem Außenlager des KZ Flossenbürg, schildert. Menschen, die so schwach sind, dass der Gang zu der primitiven Latrine schnell zum Todesurteil werden kann. Leichen, die dort so liegen, wie die Häftlinge gestorben sind – wer seine Notdurft verrichten will, muss über die Toten klettern. Hersbruck war ein Arbeitslager. Und für den jungen Bochhetta hätte es den Tod bedeutet, als ihm im Winter die Holzschuhe gestohlen wurden. Der Lagerarzt schenkte ihm ein kaputtes, zu hohe Temperatur anzeigendes Thermometer, als er vorgab krank zu sein – weil er sich an den Häftling erinnerte, der Französisch sprach und Voltaire gelesen hatte. "Mein Leben war dieses Thermometer. Es war natürlich auch nicht in gutem Zustand."

"Mein Leben war dieses Thermometer"
Vittore Bochhetta

Bochhettas grimmiger Humor täuscht nicht über das unglaubliche Ausmaß des Schreckens hinweg, er macht es nur noch plastischer. Bochhetta spricht nicht nur über die Lager und die Nazis, er spricht auch über Italien. Als Antifaschist und Widerständler war er verhaftet, gefoltert, über das Lager Bozen nach Flossenbürg deportiert worden. Als er 1945 nach Hause zurückkehrte, glaubte er, er könne ein besseres Leben angehen, weil "ich das Schlimmste schon erlebt hatte". Aber der Umgang mit Partisanen im Nachkriegsitalien glich einem Spießrutenlauf: "Man verheimlichte es besser, Partisan gewesen zu sein. Man bekam keine Arbeit." Diese Beleidigung war schlimmer als die Lager. Bochhetta verließ Italien und kehrte erst 1992 zurück. Seine Erkenntnis: "Demokrat sein heißt nicht, Antifaschist sein." Und das gelte noch heute.

Die SS-Durchgangslager in Fossoli bei Carpi und in Bozen wurden von einem Offizier kommandiert, der aus Horn stammte: Karl Friedrich Titho. Als er im Sommer dieses Jahres in seiner Heimatstadt starb, war das Symposium längst geplant. Der Bezug zu Lippe bestehe aber auch in ihrem persönlichen Kontakt zu den Familien italienischer Nazi-Opfer, sagte die Historikerin Ingrid Schäfer, die die Veranstaltung mit organisiert hatte. So wurde Tithos Rolle bei den Deportationen und der Erschießung von Gefangenen von den Referenten zwar näher beleuchtet, aber im Laufe der Vorträge zeigte sich, dass die italienischen Gäste nicht allein wegen der Darstellung der Vergangenheit nach Detmold gekommen waren. Die Verbindung zwischen Gestern und Heute war ein weiterer, gewichtiger Grund.

"Ein Volk das kein Verständnis für die Geschichte hat, ist verdammt, sie wieder zu erleben", stellte Demos Malawasi, Bürgermeister von Carpi, fest. Der so genannte Schrank der Schande mit über 600 unbearbeiteten Akten aus der Zeit nach der deutschen Besatzung Italiens zeige "die staatlichen Anstrengungen, Aufklärung zu verhindern". Bis Mitte der 90-er Jahre schlummerten die Akten im Keller eines Amtsgebäudes, die Türen des Schranks waren zur Wand gedreht. Auch Carpi sei aufgefordert, zu untersuchen, warum dies geschehen sei, betonte Malawasi. "Es geht uns nicht um Rache, es geht um die Stärkung der Demokratie."

Dass es da noch viel in Italien zu tun geben könnte, unterstrich Giuseppe Paleari. Er hat einen Film produziert, der Schülern und Lehrern helfen soll, an die Thematik Konzentrationslager heranzugehen – jährlich besuchen Tausende von Schulklassen Gedenkstätten in Italien und Deutschland. Es heiße immer seitens der Obrigkeit, die Aufarbeitung von Zeitdokumenten sei enorm teuer, so Paleari, aber er halte dies für eine Schutzbehauptung. "Es kostet nicht viel Geld, nur guten Willen." Über das Schicksal zigtausender italienischer Opfer sei noch über 55 Jahre nach Kriegsende so gut wie nichts bekannt. Für Paleari ein Versäumnis des italienischen Staates, ein bewusstes, aber auch ein gefährliches.

Warum sowohl die deutsche als auch die italienische Justiz in der Nachkriegszeit wenig Neigung verspürte, die Verbrechen aufzuklären, versuchte die Journalistin Christiane Kohl dem Publikum zu verdeutlichen. In den Jahren unmittelbar nach dem Krieg habe man in Italien befürchtet, bei Ermittlungen und Prozessen gegen deutsche Kriegsverbrecher die eigene unrühmliche Rolle wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken, in den 50-er Jahren sei es die Rücksicht auf den neuen Nato-Partner Deutschland gewesen. Ermittlungen, die in Deutschland aufgrund von Aktenüberstellungen aus Italien begonnen wurden, seien oft "nicht besonders nachhaltig geführt" worden. Erst mit dem Fall der Berliner Mauer und der Öffnung von Archiven in westlichen Staaten sei ein neuer Schub entstanden.

NRW-Kultusministerin Gabriele Behler, die das Symposium am Samstag eröffnete, ging auf die bedeutende Rolle ein, die der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in den Schulen Nordrhein-Westfalens eingeräumt werde. "Das ist immer noch eine Herausforderung. Es gibt immer noch Fragen, was geleistet werden kann und welche Fehler gemacht wurden."

Dr. Jutta Prieur-Pohl, Leitende Direktorin des Staatsarchivs, zog eine positive Bilanz der gut besuchten Veranstaltung: "Es hat sich eine menschliche Ebene ergeben, die für eine solche Tagung nicht selbstverständlich ist." Der direkte Austausch zwischen Menschen aus der "Täter- und der Opferregion" sei bemerkenswert.


Detmold@lz-online.de

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