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Neue Westfälische 01 - Bielefeld West , 30.10.2013 :

Gedenken an geflohene jüdische Familie / Stolpersteine vor früherem Katzenstein-Haus verlegt - erstmals im Beisein einer direkt Betroffenen

Von Joachim Uthmann

Mitte. "Das ist so unwirklich. Hier wäre ich aufgewachsen", sagt Eva Roberts, geborene Katzenstein. Die 88-jährige Jüdin steht fassungslos und doch gefasst vor ihrem Elternhaus an der Viktoriastraße 24. Mit 14 musste sie vor den Nationalsozialisten nach England fliehen. Gestern wurden auf dem Gehweg Stolpersteine zum Gedenken an die Verfolgten gelegt - erstmals im Beisein einer Betroffener.

"Das Haus sieht ganz anders aus", sagt Roberts, die von ihrer Nichte Jennifer Bern-Vogel begleitet wird. In ihrer Erinnerung war der Garten sehr groß, die Straße schmaler. Von ihrem Elternhaus sind nur noch Teile wie früher. Der Rest ist umgebaut und wird heute vom Künstlerhaus Artists Unlimited genutzt.

Für die 14-jährige Eva war die Flucht mit dem Kindertransport angsteinflößend und aufregend. "Als wir über die holländische Grenze waren, sind wir vor Erleichterung aufgesprungen und haben gerufen, wir sind raus." Die Eltern, Anwalt Moritz Willy und Selma Katzenstein, folgten erst sechs Wochen später.

In London begann ein schwieriges Leben für die Familie. Verwandte nahmen sie auf. Eva kam ins Internat: "Da hab ich sehr schnell Englisch gelernt." Dass sie dort aufgenommen wurde, habe sie einem großen Zufall zu verdanken gehabt, erzählt sie. In einem Teeladen hörte eine Engländerin von ihren Sorgen und bot an, ihr zu helfen: "Sie beschaffte mir einen Platz in einer guten Schule und bezahlte ihn."

Später arbeitete Eva Katzenstein als Sekretärin. Sie heiratete und gebar zwei Kinder. Sie fühlt sich als Engländerin. Dass das Projekt Stolperstein an ihre Geschichte erinnert, findet sie "sehr bewegend. Es ist schon ein merkwürdiges Gefühl." Und sie ist froh, nach Bielefeld gekommen zu sein.

Den Kontakt hat die Bielefelder Künstlerin Gabriele Undine Meyer hergestellt, die über die Katzensteins schon eine Ausstellung in der Kunsthalle gemacht hat und seit zehn Jahren eine Freundschaft zu Jennifer Bern-Vogel und deren Mutter und Evas Schwester Marianne Bern pflegt. Marianne, ebenfalls 1939 geflohen, konnte selbst nicht zur Verlegung der Stolpersteine nach Bielefeld reisen. Dabei war es eigentlich ihr Geschenk zum 90. Geburtstag. Doch es dauerte eineinhalb Jahre, bis die Aktion umgesetzt werden konnte.

Dafür lasen weitere Angehörige wie Susan Hamlyn bei der kurzen Gedenk-Aktion Gedichte von Willy Katzenstein wie "Chanukka 1938" und "Mein Garten". Jennifer Bern-Vogel trug das Friedensgebet "Oseh Shalom" vor: "Es soll Frieden auf aller Welt geben."

Die vier Steine an der Viktoriastraße erinnern an die Schwestern Eva und Marianne Katzenstein und ihre Eltern Moritz Willy und Selma Katzenstein, geborene Zehden, denen 1939 die lebensrettende Flucht nach England gelang.

Einen fünften Stolperstein setzte Handwerker Peter Petkau gestern vor dem Haus Renteistraße 28 ein. Hier lebte Fritz Katzenstein, der eine Versicherungsagentur betrieb und sich 1933 wohl aus Furcht vor den Nazis das Leben nahm, wie sein Enkel Ralph Wittgrebe (Berlin) erzählt. Über Fritz Katzenstein sei kaum etwas bekannt. "Meine Mutter hat wenig erzählt", erinnert sich Wittgrebe. Und auch seine Recherchen mit seinem Bruder hätten so gut wie keine Erkenntnisse gebracht.

Eva Hartog, die mit Christine Biermann das Projekt Stolpersteine in Bielefeld koordiniert, hob hervor, dass erstmals bei der Verlegung der Steine Überlebende und Angehörige da seien: "Wir wollen ihnen Ehre und Respekt zurückgeben."

Zu den Unterstützern zählt auch Ex-Oberbürgermeister Eberhard David (CDU), der nicht nur den Ratsbeschluss 2005 mit auf den Weg brachte, sondern sich auch persönlich weiterhin für das Vorhaben einsetzt. Zu den Paten der Steine zählen Verwandte der Verfolgten, ehemalige Arbeitskollegen oder Nachbarn, aber auch Schulklassen. Das Brackweder Handwerkerbildungszentrum verlegt mit die Steine - nach Abstimmung mit Gunter Demnig. Der Künstler ist Initiator des Projekts Stolpersteine.

Info / Stolpersteine

Das Projekt will NS-Opfern ihre Namen zurückgeben. Das Bücken, um die Texte auf den Stolpersteinen lesen zu können, soll auch eine symbolische Verbeugung vor den Opfern sein.

Initiator ist der Künstler Gunter Demnig, der das Projekt seit Anfang der 1990er-Jahre umsetzt. Die Steine werden in Handarbeit hergestellt - als Gegensatz zur maschinellen Menschenvernichtung in den KZs.

Die Steine werden Hand verlegt. Demnig: "Man stolpert nicht und fällt hin, man stolpert mit dem Kopf und mit dem Herzen."

Bildunterschrift: Vor dem Elternhaus: Eva Roberts, geb. Katzenstein, reiste mit Nichte Jennifer Bern-Vogel aus England an, um bei der Verlegung der Stolpersteine an der Viktoriastraße dabei zu sein.

Bildunterschrift: Friedensgebet: Susan Hamlyn, Jennifer Bern-Vogel, Eberhard David, Gabriele Undine Meyer, Olivia Hamlyn und Eva Roberts (v. l.).

Bildunterschrift: Für Fritz Katzenstein: Enkel Ralph Wittgrebe mit Gedenkstein.


bielefeld@neue-westfaelische.de

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