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Neue Westfälische , 12.11.2004 :

Erleben, dass man nicht allein ist / Das Interview: Martin Walser mit seinem neuen Roman auf Lesereise /

Bielefeld/Rietberg. Martin Walser (77), einer der bedeutendsten, in den vergangenen Jahren auch umstrittenen deutschen Gegenwartsschriftsteller, ist mit seinem jüngsten Roman "Der Augenblick der Liebe" auf Lesereise unterwegs. Vor der Veranstaltung gestern Abend in Rietberg sprach Manfred Strecker in einem Bielefelder Hotel mit dem Autor.

Neue Westfälische: Vorgestern Heidelberg, gestern Rietberg, heute Bitburg. Eine Strapaze?
Martin Walser: Wenn die Bahnfahrt über vier, fünf Stunden dauert, grenzt das an Strapaze. Andererseits kann ich im Zug arbeiten. Es ist keine ganz verlorene Zeit.

NW: Sie haben Erfahrung mit Lesereisen. Hat sich das Publikum über die Jahrzehnte verändert?
Walser: Ich kann keine Veränderung feststellen. Die Menschen sind unheimlich aufgeschlossen, sie sind so reaktionsfähig, dass das Lesen zur Lust wird. Man fühlt sich getragen, man sieht in den Gesichtern Freundlichkeit und Zustimmung. Man darf sich dadurch nicht verführen lassen, es fort und fort zu betreiben. Ich hätte schon längst aufhören müssen, aber es ist eben ziemlich schön, einen Text vor Menschen laut werden zu lassen und dadurch zu erleben, dass man mit dem, was man geschrieben hat, nicht allein ist.

NW: Gottlieb Zürn, die schon von früher her bekannte Hauptfigur Ihres neuen Romans, hat sich aus dem Arbeitsleben zurückgezogen. Gesellschaftliches kommt in dem Buch nicht mehr so vor wie früher.
Walser: Woher es kommt, das kann ich selber nicht sagen, aber ich würde heute ganz von mir aus keinen Roman mehr schreiben, der die Figuren vor allem in einem gesellschaftlichen Umfeld schildert. Das ist irgendwie weg. Jetzt möchte ich die Menschen als einzelne auf eine Strecke schicken, um sie dadurch genauer kennen zu lernen, als sie in einem gesellschaftlichen Umfeld kenntlich sind. Ich will weitergehen in der Genauigkeit, als wenn die Menschen in einer gesellschaftlichen Szene agierten. Ob das eine Illusion ist, weiß ich nicht. Aber das tendiert auch ein bisschen in Richtung auf Beendigung des Romans.

NW: In Ihrem Buch spielt die Philosophie des französischen Philosophen und Materialisten Julien Offray de La Mettrie eine große Rolle. Eine seiner Kernthesen besagt, dass uns Schuldgefühle von der Gesellschaft aufgezwungen werden.
Walser: In einem früheren Buch mit gesellschaftlichem Umfeld hätte ich die Philosophie von La Mettrie nicht so einführen können, wie ich es getan habe, das wäre nicht möglich gewesen. Für mein Gefühl hat ungeheuer gut in mein Romanthema gepasst, was dieser Kerl da aus Frankreich für Sachen geschrieben hat wie damals niemand sonst. Das musste ich benutzen, um meiner Liebesgeschichte eine Philosophie mitzugeben. Das habe ich ausgebeutet. Ich habe das Gefühl gehabt, dass es gar nicht so schlecht ist, wenn ein Roman auch ein bisschen einen Denkanlass gibt.

Walsers umstrittene Rede in der Paulskirche klingt noch nach

NW: La Mettrie hat eine Philosophie der Lebensbejahung, eine Metaphysik der Lust vertreten, damit ist ihm aber die Transzendenz verloren gegangen.
Walser: Das habe ich gut brauchen können. Ein Satz von La Mettrie wie "Die Sinne sind meine Philosophen", der hat meinem Gottlieb Zürn gut genutzt für seine Liebesgeschichte. La Mettrie wird dadurch zu einem Legitimierer der Irrungen und Wirrungen von Zürns Liebe. Bitte, wenn ich den La Mettrie nicht für glaubwürdig und denkwürdig und für ganz großartig hielte, dann hätte ich ihn natürlich nicht in den Roman eingebettet.

NW: Sie lassen Gottlieb Zürn in Ihrem Roman an einer US-amerikanischen Universität über La Mettrie referieren. Dort wird ihm vorgeworfen, er würde die These des Philosophen, es gäbe eigentlich keine Schuld, dazu benutzen, die Deutschen von der historischen Last der Judenvernichtung freizumachen. Hier klingt die Auseinandersetzung um ihre Rede 1998 in der Paulskirche anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an. Sie hatten sich unter anderem mit der Wendung "Moralkeule" gegen die Instrumentalisierung von Auschwitz ausgesprochen.
Walser: Da haben Sie völlig recht. Ich hätte das weglassen können. Aber da bin ich auf einen Denker gestoßen, der seinerzeit die Sinnlosigkeit von Schuldgefühlen großartig beschrieben hat. Das habe ich ausgebeutet und die Amerikaner den Deutschen Gottlieb Zürn vorführen lassen. Ich konnte mich da nicht beherrschen.

NW: Seit der Paulskirchen-Rede sind sechs Jahre vergangen. Wie stehen Sie heute zu der Kontroverse?
Walser: Ich würde daran nicht mehr denken, wenn ich nicht jedes Mal diese Protestierer bei den Lesungen hätte wie in Heidelberg oder einen Tag zuvor in Tübingen. Die stehen da mit Transparenten - "antifaschistische Vereinigungen" nennen sie sich - und verteilen Flugblätter. Also diese Leute halten mich an diesem Thema. Ich habe längst was anderes zu tun.

NW: Im ersten Heft des Kursbuches 1965 haben Sie eine lange Prozessbeobachtung aus den Auschwitz-Prozessen veröffentlicht - unter dem Titel "Unser Auschwitz". Was hat sich von da in den mehr als 30 Jahren bis zu Ihrer Rede in der Paulskirchen verändert?
Walser: Bitte, bitte, bitte. Ich habe gar nicht gesagt, dass es über Auschwitz zweierlei Meinungen gibt. Es gibt nur verschiedene Meinungen über die Art, wie Auschwitz verwendet wird. Ich habe mich gegen eine, wie ich finde, unseriöse Art der Verwendung gewehrt, vor allem durch das Fernsehen, das einfach andauernd die schlimmsten Bilder auf uns niederlässt. Ich will nur selber gestehen, dass ich diese Bilder rein nervlich nicht ertrage, ich muss dann wegschauen. Ich sage nicht, dass man Schluss machen muss mit der Auseinandersetzung mit Auschwitz, das kann ich gar nicht. Man hat das in den Medien darauf verkürzt, dass der Walser wegschauen will. Das ist, was übrig geblieben ist. Ich habe gesagt, Gewissen kann man nicht ans Fernsehen, nicht an die Kirche, noch an irgendjemand delegieren.


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