Gütersloher Zeitung / Neue Westfälische ,
08.11.2004 :
"Ich hatte immer die Hoffnung, dass das Gute siegt" / Isaak Kleimann (80), Überlebender des Holocausts, erzählt über Leben und Sterben im Rigaer Ghetto
Gütersloh (mac). Mehr als sechs Millionen Juden wurden während des Zweiten Weltkriegs ermordet. Auch in Lettland starben fast alle der rund 90.000 Juden, nur die wenigsten überlebten. Einer, der überlebt hat, ist Isaak Kleimann. Bei einem Vortrag in der Volkshochschule erzählte der heute 80-Jährige seine Lebensgeschichte, sprach über die Zeit im Rigaer Ghetto, über die Ermordung seiner Familie und wie er es geschafft hat zu überleben.
Nach Einmarsch der deutschen Truppen in Riga im Sommer 1941 habe sehr schnell die Verdrängung der Juden aus dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben begonnen, berichtete Kleimann. Schon im September sei der ärmlichste Stadtteil Rigas für das künftige Ghetto geräumt worden. Die rund 30.000 Juden der Stadt seien umgesiedelt worden. Die Familie Kleimann lebte fortan mit neun Personen in zwei Zimmern. Einen Monat später wurde das Ghetto geschlossen, hinein- oder hinaus gelangen konnten die Bewohner jetzt nur noch über bewachte Eingänge.
Im November folgte der Erlass, das Ghetto zu räumen - um Platz für die Deportationen aus Deutschland, Österreich und der Tschechei zu machen. "Die Menschen wurden rausgetrieben in den benachbarten Wald", erinnerte sich Kleimann. Dort seien schon Gräber ausgehoben gewesen. "Ich musste helfen diese Menschen zu begraben." Mehr als 60 Jahre später erinnert sich der 80-Jährige noch immer an die grausigen Details. "Da lagen zwei Kinder in prächtigen Pelzmänteln und ein älterer Mann mit Bart und Russenstiefeln." In einer der folgenden Räumungsaktionen wurde auch Kleimanns Familie getötet - seine Mutter, seine Schwestern, sein kleiner Neffe. Wie es geschah, weiß Kleimann nicht: "Entweder wurden sie beim Hinausjagen aus den Häusern von den Polizisten ermordet oder sie wurden in den Wald getrieben und dort erschossen."
Im Ghetto organisierte sich eine Widerstandsgruppe, zu der auch Kleimann gehörte. Als er erfuhr, dass die Gruppe von der Gestapo aufgespürt worden sei, floh er. "Im Ghetto war die Liquidierung nur eine Frage der Zeit." Unterschlupf fand er bei seiner ehemaligen Kinderfrau. Sie sollte ihn 14 Monate lang verstecken. Im Oktober 1944 eroberten die Russen Riga. Kleimann war außer Gefahr. "Wir erhielten einen Pass und sollten nun einfach weiterleben". Einfach weiterleben - für den damals 20-Jährigen wurde das zur Lebensaufgabe: "Das Geschehene konnte man nicht vergessen. Einfach weiterleben war unmöglich."
Das Schrecklichste sei für ihn jedoch nicht in erster Linie die Zahl der Ermordeten gewesen: "Die Tragödie war, dass ein ganzes Volk gesehen und gehört, aber niemand geholfen hat."
Nach all den erlebten Gräueln habe er sich immer wieder die Frage nach dem Warum gestellt: "Warum musste meine Familie auf diese Weise sterben? Warum habe ich überlebt?" Fünf Jahre lang habe er über den Sinn des Lebens nachgedacht. Erfüllung habe er schließlich im Christentum gefunden. Kurze Zeit später sei er konvertiert und Pfarrer geworden.
Nachdem Kleimann geendet hatte, blieben regungslose Stille und bedrücktes Schweigen im Saal zurück. "Das muss erstmal sacken", sagte eine Dame. "Wie kommt es, dass sie nach all dem so positiv gestimmt sind?" fragte eine Zuhörerin.
Kleimanns Antwort ist Spiegel seiner Lebenseinstellung: "Ich hatte immer die Hoffnung, dass das Gute siegen wird. Ohne Optimismus hätte ich nicht überlebt."
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