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Lippische Landes-Zeitung , 26.10.2004 :

Verraten und verkauft / Ein Chronist der letzten Kriegsjahre

Bad Salzuflen (Nv). Während die braune Vergangenheit Deutschlands mancherorts zum Geschäft zu verkommen droht, erhebt ein authentischer Zeitzeuge die Stimme. Zu seinem 80. Geburtstag berichtet Gebhard Redlin, Freunden der klassischen Musik als langjähriger Geschäftsführer der Nordwestdeutschen Philharmonie bestens bekannt, in dem Buch "Betrogene Jugend" über seine 60 Jahre zurückliegenden Kriegs- und Gefangenenjahre im gnadenlosen sibirischen Winter.

Überwiegend ältere weibliche Gemeindemitglieder und Gäste, die sich noch an die Zeiten des Zweiten Weltkriegs erinnern konnten, waren am Samstagnachmittag in die Christuskapelle der Evangelisch-Methodistischen Kirche gekommen. "Ich musste erst ins Konfirmationsalter kommen, bis die Zweifel kamen", sagt Gebhard Redlin: "Adolf Hitler besaß das Charisma eines alttestamentarischen Propheten, der mit den Gefühlen der Menschen zu spielen verstand." Doch als die erste Synagoge brannte, war die Bewunderung für den Führer schlagartig vorbei.

In schnörkellos eindringlicher Sprache berichtet der Chronst, wie er mit seinen Kameraden im Winter 1943/44 die Kesselschlacht von Smolenak überstand und wie die Division von der Heeresführung aufgegeben, verraten und verkauft wurde.

"Wir hatten die Freiheit verloren - doch waren wir vorher frei gewesen?", so seine nachdenkliche Frage nach der Gefangennahme. Erzählt wird von orientierungslosen Märschen, vom Trinken aus Tümpeln und von Wegen, mit Leichen und Pferdekadavern gesäumt. Der Trupp wird nach Moskau verfrachtet, wo bereits 50.000 deutsche Leidensgenossen versammelt sind. Stalin lässt sie in einer diabolischen Inszenierung auf dem Roten Platz aufinarschieren, als Karikatur einer Herrenrassen-Armee.

Im gnadenlosen sibirischen Winter verbringt Gebhard Redlin die weiteren Monate mit der Schufterei in einem Sägewerk - immer noch erträglicher als in der Asbestproduktion, die kaum einer überlebt. Er berichtet vom Alltag in dem von meterhohen Zäunen umgebenen Lager, in dem sich menschliche Charakterzüge zwischen Güte und Sadismus extrem entfalten.

Der angehende Musikus findet seinen Platz

Zur körperlichen Not kommt der als besonders schmerzlich empfundene Mangel an kulturellen Tröstungen. Doch der angehende Musikus findet immerhin seinen Platz in dem von den Kommandeuren gegründeten Orchester

Pastorin Nikole Bernardy füllte die Pausen zwischen den einzelnen Kapiteln mit ruhigen Klängen, wie sie unter anderem Johannes Brahms komponierte. Gebhard Redlin schildert zuletzt seine fast tödlich ausgegangene Krankheit und das Kriegsende, bei dem seine pommersche Heimat an Russland fiel. Mancher der Jüngeren mag sich bei der Lektüre seiner Chronik die Frage stellen, ob die eigenen, als gravierend empfundenen Probleme dieser Schilderung von existenzieller Not standhalten.


salzuflen@lz-online.de

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