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Der Patriot - Lippstädter Zeitung , 14.10.2004 :

"Träumerei" für Dr. Mengele / Anita Lasker-Wallfisch war Cellistin im Mädchenorchester von Auschwitz / Auf der Studiobühne las sie aus ihren Erinnerungen

Lippstadt. Als Cellistin des Mädchenorchesters in Auschwitz überlebte Anita Lasker-Wallfisch die Hölle der Konzentrationslager. Am Dienstag las sie auf der Lippstädter Studiobühne aus ihren Erinnerungen.

"Wir Überlebenden haben die Aufgabe, dazu beizutragen, dass niemals wieder ein solches Verbrechen geschieht", beschrieb die 79-jährige ihre Beweggründe, knapp 50 Jahre nach Kriegsende das Schweigen zu brechen.

Eigentlich hatte sie sich nach der Befreiung aus Bergen-Belsen geschworen, nie wieder einen Fuß auf deutschen Boden zu setzen. In ihrer neuen Heimat London wurde sie Gründungsmitglied des English Chamber Orchestra.

Ihren Schwur hielt sie 44 Jahre lang, bis das Orchester ein Gastspiel in Celle und Soltau auf dem Tourneeplan hatte - Orte in der Nähe Bergen-Belsens. "Ich wollte diesen Ort unbedingt wiedersehen." Auf dieser Reise knüpfte Lasker-Wallfisch Kontakte zu jungen Deutschen, die nach dem Krieg geboren worden waren: "Ich habe gemerkt, dass es blöd ist, alle Deutschen zu hassen."

Für ihre Töchter und Enkelkinder schrieb sie ihre Erinnerungen zunächst auf Englisch, übersetzte sie dann ins Deutsche. "Ihr sollt die Wahrheit erben" erschien in Deutschland zuerst 1997. Inzwischen ist Anita Lasker-Wallfisch häufig auf Lesereise in Deutschland und Gast in Talkshows.

Rund hundert Besucher waren zur Studiobühne gekommen, um den schonungslosen Bericht der Cellistin zu hören, die gemeinsam mit ihrer älteren Schwester Renate den Holocaust überlebte. "Ich weiß nicht, warum ich die Information, dass ich Cello spiele, für wichtig hielt, aber sie rettete mir das Leben", sagte die Autorin über ihre Aufnahme in Auschwitz-Birkenau.

Alma Rose, eine Nichte Gustav Mahlers, leitete dort ein Mädchenorchester, das unter anderem Märsche für die Arbeitskolonnen spielen musste. Der berüchtigte SS-Arzt Dr. Josef Mengele ließ sich Robert Schumanns "Träumerei" vorspielen. "Können Sie sich vorstellen, dass solch ein Mensch Musik liebte?", fragte Lasker-Wallfisch die Zuhörer. Es bleibe unfassbar, dass die Mörder ganz normale Menschen gewesen seien.

Ihre grausamen Erinnerungen an Auschwitz und später Bergen-Belsen erzählt Lasker-Wallfisch in einer schnörkellosen Sprache. Vielleicht sind sie gerade deswegen so bewegend. "Da stand ich nun, splitternackt, ohne Haare und mit einer Nummer auf dem Arm." Wie kann man nach solchen Demütigungen wieder ein froher Mensch werden?

Nach dem Krieg habe sie "alle Deutschen gehasst". Wenn sie als Dolmetscherin für die Alliierten einem Deutschen gegenüber stand, habe sie sich umdrehen müssen, "um ihm nicht ins Gesicht zu schlagen". Aber mit der Zeit habe sie erkannt, dass man mit "Hass die Umwelt vergiftet und speziell sich selbst".

Betroffen schwiegen die Zuhörer nach Lasker-Wallfischs Bericht. Doch nach und nach kamen immer mehr Fragen an die Zeitzeugin. Wie sie nach Auschwitz noch Musik machen könne? "Musik steht weit über den Dingen. Ich wollte nur eines: Endlich Cello spielen, aber vernünftig." Die jüngsten Wahlergebnissen in Sachsen und Brandenburg erfüllten sie mit "Bangen und Trauer". Aber die Hoffnung gebe sie deshalb nicht auf: "You have to keep trying."


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