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Schaumburger Zeitung , 04.10.2004 :

Melancholischer Blick auf Vergangenheit und Tod / Archivarin Dagmar Giesecke führt Interessierte über den jüdischen Friedhof an der Ostertorstraße

Rinteln (cok). Dass es in Rinteln an der Ostertorstraße einen jüdischen Friedhof gibt, ist vielen Rintelnern gar nicht bewusst. Still und geheimnisvoll liegt er hinter einer Backsteinmauer da, mit seinen 54 alten Gräbern, auf denen Namen stehen wie "Lehmann", "Brill" und "Katzenstein". Die Archivarin Dagmar Giesecke hat zwölf Interessierte über das kleine Gelände geführt.

Im 15. Jahrhundert wurde ein hiesiger jüdischer Friedhof erstmals erwähnt, 1590 fragten Stadthäger Juden an, ob und wo man in Rinteln einen Begräbnisplatz erhalten könne und schließlich seit 1810 ist der Begräbnisplatz nachgewiesen in der Ostertorstraße, ganz am Stadtrand und im Überschwemmungsgebiet – in allen Städten mussten die jüdischen Gemeinden für ihre Toten das Gelände nehmen, was sie kriegen konnten.

Über einen jüdischen Friedhof zu gehen, zumal einem, der "stillgelegt" ist und nicht durch neue Gräber von einem neuen Gemeindeleben zeugt, das muss fast immer ein besonders melancholischer Blick auf Vergangenheit und Tod sein. In Rinteln war der Friedhof 1940 offiziell schon von der Naziregierung geschlossen, als doch noch eine Jüdin aus Obernkirchen hier beerdigt wurde. Ihr Grab ist mit Moos überwachsen, kein Nachfahre sorgt sich darum. Alle anderen Juden, ob in Rinteln oder sonstwo in der von den Nazis erreichbaren Welt, brauchten keine Stadtfriedhöfe mehr, sie waren entweder rechtzeitig ausgewandert oder wurden von ihren Mördern verscharrt und verbrannt.

In ihrem Vortrag über jüdische Begräbniskultur hob Dagmar Giesecke hervor, dass jüdische Gräber traditionell einfach und bilderlos sein sollten, mit schlichten Stelen und gradlinigen Grabsteinen, dass sie aber trotzdem auf die Ewigkeit hin angelegt waren, als der Ort, an dem die Gestorbenen das Erscheinen des Messias erwarten, um dann aufzuerstehen und den Weg nach Jerusalem anzutreten.

Umso bedrückender, dass gerade die jüdischen Friedhöfe immer wieder zerstört wurden, die Steine herausgerissen, zum Kirchen- und Straßenbau benutzt, oft mit Absicht entweiht. Erst als die Assimilation der Juden ab Mitte des 19. Jahrhunderts selbstverständlich wurde, konnten auch die Friedhöfe nicht mehr "enteignet" werden. In dieser Zeit, auch in Rinteln, verändert sich das einheitliche Bild der Friedhöfe, die Grabsteininschriften sind nicht nur hebräisch, sondern zweisprachig oder ganz in Deutsch, und gegen das Prinzip der Gleichheit aller Toten sieht man sehr wohl, wer eher wohlhabend war und wer sich nur ein kleines Gräblein leisten konnte.

Das heißt, man sieht es da, wo es noch jüdische Friedhöfe zu sehen gibt. Unter den Nazis wurden die allermeisten zerstört und dort, wo sie bestehen blieben, existierten ja keine jüdischen Gemeinden mehr, die sich darum kümmerten. Auch in Rinteln, wo der jüdische Friedhof so heimlich und schön erhalten ist, gab es 1944 noch 74 Gräber. Wo die verschwundenen 20 Grabsteine abgeblieben sind, das weiß niemand.

Obwohl die Stadt die Grundpflege des Geländes übernimmt, das unter Denkmalschutz steht und dem Landesverband der jüdischen Gemeinden gehört, musste Dagmar Giesecke einige Aufräumarbeit leisten, bevor sie mit ihren Nachforschungen beginnen konnte. Viele Grabinschriften waren mit Efeu umrankt, seit dem letzten Hochwasser waren die meisten Steine vermoost und Müll lag auch jede Menge herum.

Bei der Führung über den Friedhof stellte sich heraus, dass mehrere Teilnehmer die jüdischen Familien noch kannten, deren Angehörige hier beerdigt sind. Und dann war da auch einer, der sagte: "Die Familie Lehmann, ja, das sagt mir was! Das dort ist das Grab meines Vaters, dort liegt meine Großmutter." Das war Wilhelm Lehmann, der Sohn und Neffe der "Brüder Lehmann", die ein Bekleidungsgeschäft in Rinteln ...


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