Bielefelder Tageblatt (OH) / Neue Westfälische ,
04.10.2004 :
Streitgespräch im Gotteshaus / NW-Treff über Bombenkrieg zwei Tage nach 60. Jahrestag zum 30. September 1944
Von Thomas Güntter
Bielefeld. Die jungen Leute kamen unbemerkt. Erst beim ersten Redebeitrag entrollten sie ihr Transparent und machten in der Altstädter Nicolaikirche mit ihren Trillerpfeifen einen Höllenlärm. "Deutsche Täter sind keine Opfer" stand da geschrieben. Pastor Arnim Piepenbrink-Rademacher, eigentlich nur Zuhörer in der ersten Reihe, musste als Hausherr eingreifen und die trillernden Demonstranten des Gotteshauses verweisen.
Wenn die jungen Leute von der Antifa hätten ruhig diskutieren wollen, würden ihnen viele Zuhörer eher zugestimmt haben. Andererseits: Wer ist Täter? Die Deutschen allgemein? Diejenigen, die einem Wahnsinnigen in blindem Fanatismus gefolgt sind? Ist Täter, wer einfach Deutscher ist? So einfach? Ist das Kind Täter? Die Mutter? Der alte Mann? Die Zwangsarbeiterin, die aus der Ukraine kam und eigentlich nicht in die Bunker durfte? Sie alle wurden bombardiert.
Um Bomben ging es im NW-Treff am Samstagabend in der mit rund 600 Zuhörern voll besetzten Kirche. "Der Bombenkrieg ein Verbrechen?" lautete das Thema. Das Podium war hochkarätig besetzt: der Berliner Schriftsteller Jörg Friedrich, über dessen 2002 erschienenes Buch "Der Brand" Öffentlichkeit und Fachwelt ausgiebig diskutieren, der emeritierte Bielefelder Geschichtsprofessor Hans-Ulrich Wehler, der Bielefelder Lokal- und Regionalhistoriker Hans-Jörg Kühne und NW-Chefredakteur Uwe Zimmer. Die Diskussionsleitung hatte Peter Stuckhard.
Anlass der Diskussion war der 60. Jahrestag zum Gedenken an den großen Luftangriff auf Bielefeld am 30. September 1944.
Hans-Jörg Kühne skizzierte die Bielefelder Ereignisse. Morgens gegen 9 Uhr waren die Besatzung der 300 amerikanischen Bomber vom Typ B-24 "Liberator" (Befreier) und B-17 "Flying Fortress" (Fliegende Festung) von ihren Stützpunkten im Südosten Englands gestartet. Sie flogen zwischen 6.700 und 7.600 Meter hoch über der Wolkendecke. Erst beim Endanflug gingen sie auf 3.600 bis 2.400 Meter herunter. Die Bomberpiloten wollten einen Flächenbrand und einen Feuersturm auslösen, was ihnen gelang, denn die Fachwerkhäuser in der Bielefelder Innenstadt brannten wie Zunder.
Jörg Friedrich erzählt in seinem Buch die plastische Ereignisgeschichte von der Zerstörung deutscher Städte. Mit Sprengladungen allein, so Friedrich, sei keine deutsche Stadt zu zerstören, erst die Brandbomben stifteten einen Schaden, der sich selbst vermehre. Friedrich: "Dazu sind zwei Wissenschaften vonnöten: Brandstiftung und Funknavigation."
Friedrich erzählt mit ungeheurem Detailwissen. Nur, was sagt uns das, 60 Jahre später? Hätten Briten und Amerikaner nicht bomben dürfen? Bombten sie nur, um zu töten? Oder, die These Wehlers, war das Bombardement eine zwangsläufige Folge von Hitlers Angriffskrieg.
Die Thesen und Ausführungen der Kontrahenten Friedrich und Wehler waren brilliant – allerdings auch sehr kühl und wissenschaftlich. Vielleicht war das der Grund, warum so wenige Zuhörer sich trauten, selbst zu reden. Zeitzeugen dürfte es schwer fallen, alle Emotionen zu vermeiden.
lok-red.bielefeld@neue-westfaelische.de
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