www.hiergeblieben.de

Neue Westfälische , 04.10.2004 :

Der Totentanz der deutschen Städte / Podiumsdiskussion über den Bombenkrieg in der Bielefelder Nicolaikirche mit Hans-Ulrich Wehler und Jörg Friedrich

Ein ernstes Thema an einem ernsten Tag. In der Altstädter Nicolaikirche von Bielefeld diskutierten unter anderem der Schriftsteller Jörg Friedrich und der Historiker Hans-Ulrich Wehler über den Bombenkrieg auf deutsche Städte. Zwei Tage nach dem 60. Jahrestag zum Gedenken an den Luftangriff auf Bielefeld am 30. September 1944 war die Kirche an diesem Samstagabend mit rund 600 Zuhörern voll besetzt.

Von Thomas Güntter

Bielefeld. Der Ort war mit Bedacht gewählt. Die Nicolaikirche wurde bei dem Angriff voll getroffen und brannte bis auf die Grundmauern aus. Die Frage auf der Veranstaltung der Neuen Westfälischen (NW) lautete: "Der Bombenkrieg ein Verbrechen?" Neben Wehler und Friedrich saßen auf dem Podium der Bielefelder Historiker Hans-Jörg Kühne und NW-Chefredakteur Uwe Zimmer. Die Diskusionsleitung hatte Peter Stuckhard.

649 Menschen kamen am 30. September ums Leben – nur in Bielefeld und bei nur einem Angriff. Insgesamt starben im Zweiten Weltkrieg durch Bomben rund 600.000 Zivilisten in den deutschen Städten. Spätestens seit Jörg Friedrichs Buch "Der Brand" wird der alliierte Bombenkrieg gegen Deutschland in der Öffentlichkeit viel diskutiert. Wehler kommt zu dem Schluss, dass dieses lange vernachlässigte Thema der Zeitgeschichte von den Historikern deshalb nicht angefasst wurde, weil man den Vorwurf der Aufrechnung scheute. Angesichts der Millionenzahlen des Holocaust und des antislawischen Vernichtungskrieges habe es eine tief sitzende Scheu gegeben, diese deutsche Leidensgeschichte zu schreiben. Friedrich gebühre die Anerkennung des Vorreiters, der ein lange tabuisiertes Thema ausführlich und akribisch genau aufgegriffen habe.

Friedrich sagte in der Diskussion, wenn die Luftangriffe eine Vergeltung für deutsche Schuld waren, dann müsse man auch fragen, ob die Toten Täter waren? Seine unausgesprochene aber nahegelegte Antwort: Nein! Es sei das Ziel der Engländer gewesen, dicht besiedelte Gebiete anzugreifen, nicht um Schuld zu sühnen, sondern um dem deutschen Kriegsgegner klarzumachen: "Wir sind die Herren über Leben und Tod." Friedrich: "Durch diese Erziehungsfolter sollte ein Massenstreik oder Aufruhr gegen die braunen Machthaber erzwungen werden."

Wehler kritisiert an Friedrich besonders dessen disziplinlose Sprache und die fehlende Einbettung des Bombenkrieges in die Geschichte des totalen Krieges. Der Berliner Schriftsteller liefere eine ausführliche und plastische Ereignisgeschichte des Bombardements, die in dem Satz gipfelt: "Eine Stadt ist durch die 3.000 Tonnen Sprengstoff, die eine Bomberflotte lädt, nicht zu zerstören. Brandmunition jedoch stiftet einen Schaden, der sich selbst vermehrt."

Bei Friedrich fallen die Bomben aus heiterem Himmel – im doppelten Wortsinn – bei Wehler ist die Vorgeschichte unabdingbar. Hitler und seine Deutschen haben Polen überfallen, Frankreich überrollt und die Sowjetunion angegriffen. Sie haben aus der Luft Rotterdam und Coventry bombardiert.

"Im totalen Krieg", so Wehler, "bedient sich auch der Angegriffene aller inhumanen Mittel, um zu überleben, auch um Rache zu üben." In einem totalen Krieg werden alle rechtlichen Normen gesprengt – auf beiden Seiten. Jeder Tote sei ein Toter zu viel. Aber es sei ein großes Glück für die Deutschen gewesen, dass der Krieg am 8. Mai 1945 zu Ende ging, sonst wäre die Atombombe über einer deutschen Stadt abgeworfen worden.

Friedrich zum Ausspruch "Wer Wind sät, wird Sturm ernten": "Die Wind-Säer saßen unter vier Meter dickem Stahlbeton, die Sturm-Ernter waren Frauen, Kinder, Greise und Zwangsarbeiter." Solange man sich nicht über diese Zusammenhänge klar werde, stünde künftig ein vereinigtes Europa auf tönernen Füßen.

Für Wehler gibt es nur eine einzige Möglichkeit, in Zukunft Kriege im Zaum zu halten: internationales Recht und eine stärkere Stellung der UNO.


redaktion@neue-westfaelische.de

zurück