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Junge Linke Lippstadt , 28.09.2004 :

Redebeitrag auf der Kundgebung am jüdischen Erinnerungsmal am 28. September 2004 in Lippstadt

Liebe Lippstädterinnen und Lippstädter,

ich freue mich, Sie im Namen der Jungen Linken Lippstadt zu der heutigen Kundgebung, die im Gedenken an die Opfer des NS-Regimes stattfindet, begrüßen zu dürfen.

Insbesondere freue ich mich über den Besuch und die Anwesenheit von Celine van der Hoek de Vries. Frau de Vries wurde als Niederländerin jüdischer Herkunft nach dem Überfall der Deutschen auf die Niederlande festgenommen und nach Auschwitz deportiert. Über ihre Erfahrungen während des Nationalsozialismus wird sie im Anschluss an diese Kundgebung im Rathaussaal berichten.

Immer lauter werden die Stimmen, welche fordern, dass endlich ein Schlussstrich unter die Geschichte gezogen werden müsse, immer offener treten nicht nur die Revisionisten zu Tage, welche meinen, dass es endlich an der Zeit wäre, das eigene, das deutsche Leid in Folge des zweiten Weltkrieges, in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung zu stellen. Die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten wird in diesem Diskurs dem millionenfachen Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden gegenüber gestellt und die Bombardierung Dresdens wird in einer fiktiven Grausamkeitsskala direkt mit Auschwitz verglichen. Das Verhältnis von Ursache und Wirkung wird dabei in unzulässigster Weise auf den Kopf gestellt, so dass ein Klima geschaffen wird, in dem sich noch der letzte SS-Opa als Opfer der Geschichte sehen darf.

Wie gefährlich diese Verklärung der Geschichte ist, in der es nicht mehr um die Aufarbeitung historischer Wahrheit und den richtigen Schlussfolgerungen aus dieser geht, sondern in weiten Teilen um eine vom Ressentiment beladene Verschiebung von Schuld, dürfte klar sein.

Besonders bedrohlich erscheint diese Entwicklung insbesondere aus dem Grund, weil sie im Kontexten einer generellen Zunahme von Rassismus, Nationalismus und nicht zuletzt Antisemitismus steht.

Aus diesem Grund sehen wir auch weiterhin die unbedingte Notwendigkeit, dem Vergessen, wie auch jeder Relativierung der NS-Verbrechen entgegenzuwirken, denn sich erinnern heißt Partei ergreifen!

Wir stehen hier heute vor dem Denkmal für die ermordeten Jüdinnen und Juden aus Lippstadt. An ihrer Geschichte zeigt sich in allerdeutlichster Weise der verbrecherische Charakter des nationalsozialistischen Systems. Es zeigt uns aber auch, wie nah diese Verbrechen sowohl in zeitlicher als auch in räumlicher Hinsicht noch an uns dran liegen. Um dies noch weiter zu verdeutlichen, möchte ich kurz auf die Geschichte von Edith Vodny eingehen:

Edith Vodny war gerade 16 Jahre alt, als deutsche Truppen 1944 in der Slowakei einmarschierten. Wie in allen anderen deutsch-besetzten Gebieten begannen die Deutschen auch in Edith Vodnys Heimatstadt Kalna die Jüdinnen und Juden zusammenzutreiben, in Gettos zu sperren, um sie von da aus in die verschiedenen Vernichtungslager zu deportieren. So wurde auch die Familie von Edith, sie waren jüdischer Herkunft, am 8. Mai 1944 festgenommen. Einen Monat später wurden sie in Viehwaggons nach Auschwitz-Birkenau gebracht. Edith Vodny berichtet über ihre Ankunft in dem Vernichtungslager:

"Meine Mutter wurde bei der Selektion durch Dr. Mengele ins Gas geschickt. Mein Vater wurde zur Zwangsarbeit abkommandiert, er gelangte nach Mülhausen, wo er im März 1945 an Entkräftung und Unterernährung starb. Mein Bruder arbeitete in einem Kleiderdepot – ich weiß bis heute nicht, wann und wie er starb."

Am 31.07.1944 wurde sie von Auschwitz nach Lippstadt transportiert, um hier in einem KZ-Außenlager für den Rüstungsfabrikanten "Lippstädter Eisen- und Metallwerke" Zwangsarbeit zu leisten. Über ihre Zeit in Lippstadt berichtet Edith Vodny, dass sie bei mangelhafter Ernährung 12 Stunden am Tag arbeiten musste. Einige ihrer Mitgefangenen waren in Folge der menschenunwürdigen Bedingungen so geschwächt, dass sie an Typhus starben. Von SS-Leuten bewacht, waren die Zwangsarbeiterinnen deren ständiger Brutalität und Bedrohung ausgesetzt, Schläge gehörten zur Tagesordnung. Allein ein deutscher Vorarbeiter benahm sich menschlich ihnen gegenüber, wie sie sagt. Er tat was er konnte, um ihre Situation erträglicher zu machen. Als sich die deutsche Niederlage immer deutlicher abzeichnete und auch Lippstadt immer häufiger bombardiert wurde, sollten die Zwangsarbeiterinnen, etwa 800 Frauen, zu Fuß zu dem KZ Bergen-Belsen marschieren. In Kaunitz stießen sie auf amerikanische Soldaten, sie waren endlich befreit.

Frau Vodny und ihre jüdischen Mitgefangenen waren aber keineswegs die einzigen ZwangsarbeiterInnen im damaligen Kreis Lippstadt.

Nach einer Auflistung der Stadt befanden sich im Oktober 1944 insgesamt 3.483 Zwangsarbeiter, unter ihnen auch Kinder, im Kreisgebiet. Bei einem Großteil von ihnen handelt es sich um sogenannte Zivile ZwangsarbeiterInnen, die aus ihren Heimatländern Italien, Frankreich, den Niederlanden, Ungarn und Russland verschleppt wurden, um hier in der Rüstungsindustrie, aber auch in der Landwirtschaft und in Privathaushalten eingesetzt zu werden. Je nach Nationalität und Religion wurden sie nach den Kriterien der NS-Rassenideologie unterschiedlich behandelt. Insbesondere für die osteuropäischen Zwangsarbeiter galt die Devise der maximalen Ausbeutung. Nicht wenige der Zwangsarbeiterinnen sind unter den schweren Lebens- und Arbeitsbedingungen gestorben, einige von ihnen liegen auf dem Lippstädter Hauptfriedhof begraben. Eine weitere kaum noch zu überbietende Perversität stellen die medizinischen Versuche dar, welche nach Informationen der Süddeutschen Zeitung an Zwangsarbeiterinnen, die in der Westfälischen Metallindustrie und den Lippstädter Eisen- und Metallwerken tätig waren, durchgeführt wurden. In pseudowissenschaftlichen Experimenten wurden einige Frauen unfruchtbar gemacht, andere wurden künstlich befruchtet, um den Fötus anschließend wieder abzutreiben, so die Zeitung .

Das diese Verbrechen, die konsequenter Ausdruck der nationalsozialistischen Ideologie waren, durch nichts wiedergutzumachen sind, ist klar. Das darf aber noch lange nicht heißen, dass die deutschen Unternehmen, die von der NS-Zwangsarbeit profitierten, von Entschädigungszahlungen freigesprochen werden dürfen. Von den vermuteten dreizehneinhalb Millionen Zwangsarbeitskräften haben die allermeisten nicht mal auch nur einen Cent Entschädigung erhalten. Erst als den deutschen Großkonzernen Sammelklagen vor US-Gerichten drohten, erklärten sich diese 1999 zu Zahlungen bereit, wobei die Devise "so wenig wie möglich" verhandlungsbestimmend war. Selbst der geringe Betrag von einem Tausendstel des Jahresumsatzes war den meisten Unternehmen noch zu viel, so dass sie bis heute nicht einzahlten.

Viele Gruppen von Zwangsarbeitern, etwa die Kriegsgefangenen oder Hausarbeitskräfte, sind von Entschädigungszahlungen ganz ausgenommen, andere erhalten nur minimale Abspeisungen und sprechen von einer letzten Beleidigung durch das deutsche Entschädigungsdiktat.

Bei den wohl meisten Deutschen stößt die zusätzliche Demütigung an den Zwangsarbeitern auf Gleichgültigkeit, viel zu viele streben keine Entschädigungszahlungen, sondern den endgültigen Schlussstrich an.

Würde es gelingen an dieser reaktionären Entwicklung etwas zu verändern und auf dieser Grundlage eine sofortige Entschädigung aller Zwangsarbeiter durchzusetzen, wäre ein erster wichtiger Schritt hin zu einer Gesellschaft ohne Faschismus getan.

Vielen Dank für das Zuhören!


lijuli@web.de

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