Neue Westfälische ,
24.09.2004 :
Fremd in der eigenen Heimat / Eine Gütersloher Flüchtlingsfamilie darf erstmals nach 25 Jahren ihr Dorf in Anatolien besuchen
Von Andreas Püfke
Gütersloh. Ein Vierteljahrhundert ist es her, dass Aziz Danho (Name geändert) sein Elternhaus zuletzt gesehen hat. Nach seiner dramatischen Flucht im Herbst 1979 haben Andere dort gewohnt, Andere seine Mandelbäume abgeerntet. Wenn er in einigen Tagen zurückkehren kann, in Folge der türkischen Bemühungen um einen raschen EU-Beitritt, dann wird er ein Fremder in der eigenen Heimat sein.
Aziz' Haus steht in Sariköy, einem kleinen Dorf unweit der syrischen Grenze in Südost-Anatolien. Der unscheinbare Ort hat eine bewegte, fast 3.000-jährige Geschichte: Hier lebten vor allem aramäische Christen wie Aziz, ehe sie in mehreren Wellen systematisch vertrieben wurden, die letzten während der Kämpfe zwischen Regierungstruppen und kurdischen Separatisten in den 90er Jahren.
Aziz sah schon im Sommer 1979 keine andere Möglichkeit mehr als zu fliehen. Zwei Mal sei damals auf ihn geschossen worden, erzählt der heute 58-Jährige. Die 6-köpfige Familie machte sich deshalb auf den beschwerlichen Weg nach Europa, der kurz darauf jäh unterbrochen wurde: Noch auf türkischem Staatsgebiet starb Aziz' Vater, geschwächt durch die Strapazen der Flucht.
Mit dem Verstorbenen konnte Aziz unmöglich das Land verlassen und fuhr in einer riskanten Nacht-und-Nebel-Aktion noch einmal von Istanbul nach Sariköy zurück, um seinen Vater zu beerdigen, während der Rest der Familie die Flucht über den Bosporus fortsetzte. Wenig später gelang die Familienzusammenführung in Gütersloh.
Bald bekamen die Danhos den Status anerkannter Flüchtlinge, und seit 1994 haben sie Pässe mit dem Bundesadler. Verwandte, Freunde und Glaubensbrüder leben seither über ganz Europa verstreut.
In die Häuser der Vertriebenen zogen derweil so genannte "Dorfschützer" ein, als verlängerter Arm des Militärs im Kampf gegen die kurdische Untergrundorganisation PKK.
"Das ist unser Haus", sagt Aziz und zeigt auf einen Kirchenkalender. Das Foto, auf dem sein Haus am rechten Ortsrand liegt, ist alles andere als eine schmucke Postkartenansicht. Vielmehr zeigt es den sehnsüchtigen Blick auf Sariköy aus mehreren Kilometern Entfernung durch ein Teleobjektiv - näher konnte, näher durfte der Fotograf nicht an sein Motiv heran.
Zwar gab es schon seit 1998 Gespräche und Verhandlungen, und nach dem Kriegsende 1999 keimte bei den Vertriebenen die Hoffnung auf eine Rückkehr, aber die Realität in der anatolischen Provinz, fernab der Hauptstadt, sah lange Zeit ganz anders aus: Die "Dorfschützer" weigerten sich beharrlich, die Häuser zu räumen.
Erst mit dem neuerlichen Bemühen Ankaras, der EU die Beitrittsreife der Türkei zu beweisen, kam Bewegung in die Flüchtlingsfrage. Der für die Erweiterung zuständige EU-Kommissar Günter Verheugen machte sich Anfang des Monats vor Ort ein Bild und schrieb der Regierung Erdogan ins Stammbuch, dass diese in Fragen des Minderheitenschutzes noch einiges zu erledigen habe.
Das war zugleich der Startschuss für die aramäischen Flüchtlinge, in ihre Dörfer zurückzukehren. So wollen auch Aziz, seine Frau Sitto und die Tochter Meryem schon bald nach Sariköy fahren, sitzen praktisch auf gepackten Koffern. Es sei wie eine Reise in die eigene Vergangenheit, die für die Familie wie ein unverhofftes Geschenk komme, sagt Aziz, dessen Leben durch die Vertreibung gleichsam in zwei Hälften zerschlagen wurde. Während die Kinder sich in Deutschland heimisch fühlen, brennt in Aziz und Sitto seit dem Tag ihrer Flucht das Heimweh.
Für Meryem ist es die Suche nach der eigenen "Spur", wie sie sagt. Sie alle fahren mit gemischten Gefühlen, denn noch immer ist ungewiss, was sie in der alten Heimat erwartet.
Endgültig zurückkehren wollen die Danhos vorerst nicht. Zunächst wünschen sie sich nichts weiter, als das Grab des Vaters zu besuchen, in Frieden und Freiheit. Zorn oder gar Rachegelüste treiben sie nicht um: "Ein Christ muss verzeihen können," sagt Meryem, "daran glauben wir, und das ist unsere Mentalität."
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