Neue Westfälische ,
09.09.2004 :
"Ausgebeutet, geschunden und erniedrigt" / Ehemalige Zwangsarbeiter: Als freie Menschen noch einmal zurück / 24 ältere Bewohner der Ukraine, Russlands, Weißrusslands und Lettlands jetzt für eine Woche in Bielefeld
In Bielefeld mussten 16.500 Menschen aus der Ukraine, Weißrussland und Russland in den Jahren 1942 bis 1945 in Betrieben Zwangsarbeit leisten. 24 von ihnen wurden jetzt von der Stadt Bielefeld eingeladen.
Von Thomas Günther
Bielefeld. Die Frau mit dem sonnengelben Kopftuch in der ersten Reihe weint hemmungslos. Das Wetter ist herrlich. Auf Stühlen sitzen die alten Menschen mit ihren Angehörigen vor dem Gedenkstein, der an das Zwangsarbeiterlager in Neu-Bethlehem auf dem Bielefelder Johannisberg erinnern soll. Bis zu 850 Männer und Frauen wurden dort eingepfercht. Die Frau im sonnengelben Kopftuch war eine von ihnen: Jekatarina Pereljak (heute 78). Sie arbeitete bei Dürkopp, Tor 5, an der heutigen Nikolaus-Dürkopp-Straße. Jeden Morgen gingen sie zu Fuß vom Lager den Berg hinab zur Arbeit, abends wieder zurück. Damals war sie 15.
Oberbürgermeister Eberhard David legte zum Gedenken an die Opfer einen Kranz nieder, ebenso die Grünen. "Die Zwangsarbeiter", sagte David in seiner Ansprache, "wurden ausgebeutet, geschunden und erniedrigt." Er mahnte, dass sich auch kommende Generationen ihrer Verantwortung stellen müssten.
Die alten Menschen, zwischen 75 und 83 Jahre alt, hatten sich auf den Besuch in Bielefeld gefreut. Sie wollten unter allen Umständen die Stadt, in der sie damals unfreiwillig schuften mussten, in Freiheit Wiedersehen - trotz der langen und anstrengenden Reise und trotz der hohen emotionalen Belastung.
Die Stadt Bielefeld und der Verein "Gegen Vergessen - Für Demokratie" hatten den Besuch organisiert und finanziert. Etliche private Spender beteiligten sich. Nur zum Teil können die alten Menschen die Firmen besuchen, in denen sie damals arbeiten mussten. Manchmal existieren die Gebäude nicht mehr, manchmal ist heute in dem ehemaligen Fabrikgebäude etwas völlig anderes untergebracht oder manchmal stellt sich die Firmenleitung stur. Es klappte bei Miele im Stadtteil Schildesche. Die beiden ehemaligen Arbeiterinnen Wera Worobey (83) und Rosa G. Rjabowa (79) konnten die ehemaligen Arbeits- und Schlafräume besichtigen.
Die beiden ehemaligen Zwangsarbeiterinnen Viktorija Kostyrkina (78) und Bronislawa Sidorowa (78) trafen die Bielefelderin Helene Sievers (86), die im Göricke-Werk von 1939 bis zu ihrer Heirat 1944 dienstverpflichtet war.
Auf eine Suchmeldung unserer Zeitung hin meldete sich gestern der Sohn eines ehemaligen Angehörigen der Werksfeuerwehr bei Göricke namens Fritz Plönges, der Viktorija Kostyrkina bei dem großen Angriff auf Bielefeld am 30. September 1944 gerettet hatte. Die alte Dame erkannte Sohn Reinhold sofort wieder. Er sieht seinem Vater sehr ähnlich. Plönges brachte ein Fotoalbum aus alten Zeiten mit Bildern seines Vater mit.
Auch ein Meister bei Göricke namens Dennerhoff, der zu den Mädchen herzlich gewesen war, wurde gefunden. Ein guter Freund meldete sich gestern. Der Mann ist als Geflügelzüchter und Preisrichter in der gesamten Region bekannt: Wilfried Detering aus Bielefeld-Hillegossen. "Willi Dennerhoff ist seit 20 Jahren tot. Er war mein Vorvorgänger als Stadtverbandsvorsitzender", sagt er. Als die beiden Zwangsarbeiterinnen von Göricke das Foto sahen, das er mitgebracht hatte, strahlten sie und sagten nur ein Wort: "Papa."
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