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Unsere Zeit , 19.09.2003 :

Guantanamo ist nicht Dachau ... / ... aber es liegt auf dem Weg dorthin / Von Norman Paech

Auf der diesjährigen Gedenkveranstaltung zum Antikriegstag auf dem Gelände des ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen Lagers Stalag 326 in Stukenbrock-Senne sprach neben anderen der Rechtswissenschaftler Dr. Norman Paech. Wir dokumentieren im folgenden Auszüge aus seiner Rede:

Kein Volk ist so verantwortlich für den Kampf gegen den Krieg und für die Erhaltung des Friedens wie das deutsche - mit Millionen Toten und verheerenden Zerstörungen aus zwei Weltkriegen auf seinem Konto und immer noch offenen Rechnungen in Italien und Griechenland, ja ganz Südosteuropa, wo Sühne und Wiedergutmachung in unseren Tagen noch eingefordert werden müssen. Und so ist es unsere erste vordringliche Aufgabe, alles zu unternehmen, dass diese Geschichte nicht in Vergessenheit gerät.

Es geht nicht nur um die Opfer, um die Verluste an Menschen und ihr Eigentum. Es geht um die Methoden des Krieges, die Instrumente des Mordens, die Strategie der Eroberung und Vernichtung, die Brutalität und Unmenschlichkeit des ganzen Apparats, an dem viel mehr Menschen als nur aus Militär, Wirtschaft und Politik beteiligt waren. Nur wer den Zusammenhang all der Akteure, Teile und Institutionen vor Augen hat, die für ein derartiges Verbrechen aus Völkermord und Angriffskrieg verantwortlich sind, begreift auch den Satz, der keine Ausnahme duldet, "Nie wieder Krieg" und kann für ihn kämpfen.

Guantánamo ist nicht Dachau oder Stukenbrock, aber es liegt auf dem Weg dorthin. Es gibt gewiss einen gewaltigen Unterschied in der Anzahl der Menschen, die in den verschiedenen Lagern zusammengepfercht wurden und in dem Weg, auf dem sie in den Tod getrieben wurden. Aber wenn wir auch noch so häufig die Einmaligkeit und Unvergleichlichkeit der faschistischen Mordmaschinerie betonen, die Erinnerung hat uns auch den Satz gelehrt: "Wehret den Anfängen".

Der Rückfall in die Barbarei ist immer mit der Verachtung des Rechts und dem Bruch der Regeln verbunden, die sich die Völker nach ihren Niederlagen selbst gegeben haben. Und es ist leider eine der bitteren Erfahrungen, dass die ersten Schritte in die Zone des Rechtsbruchs nur allzu leicht in den wilden Sturmlauf gegen das ganze Rechtssystem und die darin gehütete Rechtskultur entgleisen. Guantánamo gehört zur Methode eines Krieges, der zwar mit dem Kampf gegen den Terrorismus legitimiert wird, aber sich immer mehr als Feldzug zur Eroberung eines postkolonialen Protektorats entpuppt. Wer die Demokratisierung eines Landes unter Aufgabe der eigenen Rechtsprinzipien betreiben will, dem ist zu misstrauen.

Knapp sechzig Jahre nach dem Sieg über den Faschismus gibt es immer noch große Lücken in der Aufarbeitung eines Systems des Verbrechens. Es genügt also nicht, die Verfolgung der Verbrechen in Jugoslawien, Ruanda, Chile, Argentinien oder Kambodscha zu unterstützen, wenn die eigene verbrecherische Vergangenheit den jungen Generationen abhanden zu kommen droht. Ich habe an meiner Universität nach Stukenbrock gefragt und als einziges den Hinweis auf das Flüchtlingslager bekommen, das hier als Sozialwerk nach dem Krieg untergebracht war. Was ist das für ein Land, in dem jedes Kind den Nürburgring kennt, das Todeslager von über 60 000 russischen Kriegsgefangenen aber nahezu unbekannt ist?

Vielleicht hängt es mit dieser immer noch mangelhaften Aufarbeitung und nachlassenden Erinnerung zusammen, dass in den letzten Jahren bei der Diskussion um die deutsche Beteiligung an einem Krieg hinter dem Satz, auf den man nicht verzichten will: "Nie wieder Krieg", ein "aber" hinzugefügt worden ist: Nie wieder Krieg, aber ... zur Beseitigung von Diktaturen und groben Menschenrechtsverletzungen könnte er notwendig sein.

Wir haben alle noch die heftigen Auseinandersetzungen um die deutsche Beteiligung an dem NATO-Überfall auf Jugoslawien 1999 im Gedächtnis. Selbst die beiden Kirchen hatten damals eine zweideutige Position. Und hier liegt unsere zweite vordringliche Aufgabe: eine klare und überzeugende Position gegen den Krieg zu begründen, die nicht bei jeder neuen Versuchung ins Schwanken gerät. Denn dies ist von äußerster Wichtigkeit: wir müssen die Frage des Krieges aus der Beliebigkeit individueller Meinung und der Gefahrenzone öffentlicher Manipulation und Lüge heraushalten. Wir benötigen andere Maßstäbe als die der individuellen Moral, um über Krieg und Frieden zu entscheiden.

In kaum einer Frage war die deutsche Bevölkerung so einer Meinung wie in der Ablehnung des Krieges gegen den Irak. Zu offensichtlich waren der Bruch des Völkerrechts, die Ausmanövrierung der UNO und die dreisten Lügen der Regierungen, um ihren Krieg zu starten. Plötzlich erinnerten wir uns so mancher der Lügen, mit denen Kriege gerechtfertigt wurden: Sender Gleiwitz 1939, der so genannte Zwischenfall in der Tonking-Bucht 1964, um Hanoi zu bombardieren, die Brutkasten-Lüge zur Vorbereitung des Irakkrieges 1991. Zum Glück konnte sich auch die Bundesregierung nicht gegen die fast einhellige Ablehnung in unserer Gesellschaft entscheiden. Doch wird es auch in Zukunft so sein?

Seit jenen Tagen, als die Bundesregierung entschied, die Bundeswehr an der Bombardierung Jugoslawiens zu beteiligen, werden wir in eine Diskussion über "humanitäre Interventionen" und den "gerechten Krieg" verwickelt, die nur auf eines zielt: die engen Grenzen, die die Staaten nach dem zweiten Weltkrieg in der UNO-Charta dem Griff zu den Waffen gezogen haben, zu durchbrechen. Es ist der Versuch, das Fundament der UNO-Charta, das absolute Gewaltverbot, mit den Argumenten der Moral aufzuweichen. Neben den beiden einzigen durch die UNO-Charta legitimierten Ausnahmen vom Gewaltverbot, das Selbstverteidigungsrecht und den Beschluss des Sicherheitsrats, soll eine unübersichtliche Anzahl weiterer moralisch begründbarer Ausnahmen erlaubt werden. Die Moral soll in ihre alte Suprematie, ihre historische Vorrangstellung über dem Recht der Völker wieder eingesetzt werden.

Auch die Menschenrechte sind, wie ihr Name unzweideutig sagt, Rechte und taugen nicht dazu, als moralische Standards in Gegensatz zum Völkerrecht zu treten und über diesem zu regieren. Dieses Recht allein kann jetzt noch universelle Geltung auf Grund der Zustimmung aller Staaten beanspruchen. Recht und Moral sind beide in der UNO-Charta und dem auf ihr basierenden Völkerrecht zusammengefasst und aufgehoben. Moral ist für die Fragen von Krieg und Frieden im Recht der Staaten kodifiziert und es ist unsere Aufgabe, auf dieser Einheit zu bestehen, damit sich nicht irgendein Machtinteresse, als Moral verkleidet, über das Recht schwingen und es faktisch aushebeln kann. Sollte sich über dem Völkerrecht wieder eine Ebene der Moral mit ihren unüberprüfbaren und partikularen Standards erheben, würde dies den Zusammenbruch der mit den Vereinten Nationen im Jahre 1945 neu gegründeten Rechts- und Friedensordnung bedeuten.

Und damit ergibt sich für uns eine dritte wichtige Aufgabe. Wir verfügen über keine anderen Waffen als das Wort, die Schrift und das Internet. Um diese wirksam zu gebrauchen, haben wir uns vor jeder Naivität, jeder Illusion und jedem Täuschungsversuch zu hüten. Wir haben uns nüchtern zu fragen, was hinter den Menschenrechten sich verbirgt, die als letzte Rechtfertigung für die Kriege in Jugoslawien, Afghanistan und Irak herhalten mussten, als schließlich alle anderen Kriegsgründe als Vorwand oder platte Lügen in sich zusammenbrachen. Wer hat die Diktatoren und Terroristen wie Zauberlehrlinge herangezogen, die er nun nicht mehr los wird? Wir haben uns ebenso nüchtern zu fragen, warum die Menschenrechte so gar keine Rolle spielen, um in unserer unmittelbaren Nachbarschaft die Regierungen in der Türkei und Israel von ihrer menschenrechtswidrigen Gewalt gegen Kurden und Palästinenser abzubringen. Haben die universellen Menschenrechte etwa nach Regionen, Bündnissen oder Interessen unterschiedlichen Wert?

Diese Fragen müssen wir uns nicht nur stellen, um die Kriege, die wir nicht haben verhindern können, zu verstehen, sondern um uns keine Illusionen zu machen über das, worum es wirklich geht und was wir in Zukunft zu erwarten haben.

Weitere Informationen unter: www.blumen-fuer-stukenbrock.de


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