Lippische Landes-Zeitung ,
08.09.2004 :
Völker, hört die Signale / Der Hintergrund: 400 Demonstranten in Lemgo - mehr als ein Reflex?
Von Axel Bürger
Lemgo. Eine Front, unterschiedliche Motivationen. Montagabend zogen rund 400 Demonstranten in Lemgo durch die Straßen. Es lebte eine Tradition auf - Zweifel anmelden gegen die Entscheidungen von "denen da oben". Die Zeiten der großen Demos schienen schon passé, "Atomkraft? Nein Danke", Nato-Doppelbeschluss, Mutlangen - alles im vergangenen Jahrtausend. Beim Irak-Krieg bereits sichtbar auf der Straße, kehrt der öffentliche Protest ob Hartz IV endgültig zurück.
Weniger gegen Materie wie Raketen oder laute Flugzeuge, sondern in erster Linie gegen Einschnitte in die Sozialsysteme. Der Globalisierungsnebel spart auch Lippe nicht aus. Wobei Gewerkschaft & Co. sich mit Megaphonen aus den Zeiten des "Klimawechsels" noch auskennen. In den 80er Jahren an der Startbahn-West, heute eine Nummer kleiner auf dem Lemgoer Regenstorplatz. Lautstark formulierten Fritz Ehlert und Reinhard Seiler ihre Kampfansage, ein Echo auf die Kampfansage der demokratisch herbeigeführten Mehrheiten. Was treibt sie an? Und kämpft an der Hartz-Front wirklich eine homogene Masse?
Kampagnen gegen Hartz IV bieten zweifelsfrei einen willkommenen Anlass, weiter über Sozialabbau und - so hört es sich bisweilen an - die Knechtung der Völker zu schwadronieren und in letzter Konsequenz hiesige Arbeitnehmer als reine Opfer neoliberaler Privatisierer darzustellen. Aber ist das so? Geht es den Vieregges, Seilers, Brinkmanns, Ehlerts und den umtriebigen Attac-Anhängern um die herrschenden Verhältnisse oder (in persona und deren Entscheidungen) um die Herrschenden? Keine akademische Begriffspuzzelei, sondern ein Unterschied ums Ganze.
Lassen wir Adorno mal außen vor, auch wenn er die Frage wohl beantworten hätte können. Den Lippern auf dem Lemgoer Marktplatz dürfte Adorno ohnehin einerlei sein. Sie fürchten schlichtweg um ihre "Moneten". Um die staatlichen Umverteilungen, um die Summen, auf die sie sich in ihrem Alltag eingestellt haben. Was Hartz IV en passant provoziert, ist somit die Frage: Wann fängt ein Mensch an, sich - isoliert von Staat, Medien und Apparaten - um seine eigenen Rechte, um sein Leben zu kümmern? Das aber scheint aber nicht allein die Idee des jetzigen Protests. Denn: die einen wollen das System verändern, die anderen im System möglichst nichts verändern. Selbst die intellektuelle Speerspitze der Bewegung, die Globalisierungsgegner von Attac, stellen ihre Kernthesen höchst selten in den Zenit einer Demo. Auch ein Attac-Sprecher aus Lemgo zweifelte Montag noch an der Reflexionsbereitschaft der Masse - gerade in diesem Punkt. Stattdessen fordern die Demonstranten auf der Straße eine Chance für die, die keinen Job haben. Das ist durchaus legitim. Aber soll unterm Strich natürlich den Status quo im existenten System sichern. Von grundsätzlicher Veränderung keine Spur.
Alles ist eine Frage von Macht. Wer verändert die Rahmenbedingungen, damit diese Menschen eine Chance haben? Oder mal ganz konkret als Beispiel: Wer kann dafür sorgen, dass ein bestimmtes Waschmittel am Markt chancenlos ist? Der Kunde vielleicht, weil er es nicht kauft?! Die Gewerkschaften indes stellen nicht die Gretchenfrage des Systems, sie wollen das System nicht aus den Angeln heben, sind sie doch Teil dessen. Es ist wie bei einer Packung Nüsse von American Airlines, dort stand unter "Anleitung" einmal: Packung öffnen, Nüsse essen. Haha.
Attac orakelte in Lemgo leise und philosophisch via Flugblatt: Wo wollen wir eigentlich hin? Die Arbeitslosen schleichen ein paar Meter nebenher mit bleiernen Schuhen in großem Bogen um genau diese Frage. Das nährt den Verdacht, dass die selbsternannten Opfer des wirtschaftlichen Wandels sich weiterhin auf Nebenkriegsschauplätzen aufhalten. Die Proteste auf Hartz IV, das zeigte sich in Lemgo, sind (leider) nicht mehr als ein Reflex. Weder die Linke in der SPD, noch die Intellektuellen haben einen vernehmbaren Leidensdruck, die Fragen zu stellen, die den Unterschied machen. Es sind die Fragen nach der Macht der Lobbyisten. Da sitzen die Stellschrauben.
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