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Mindener Tageblatt , 03.09.2004 :

Auf den Spuren einer umstrittenen Person / Mit "Schleyer" erzählt Lutz Hachmeister faktenreich deutsche Geschichte / Buch jetzt im Handel erschienen

Von Martin Steffen

Minden (mar). Sein letzter öffentlicher Auftritt fand im Mindener Rathaussaal statt. Hanns Martin Schleyer sprach dort am 1. September 1977 über "Unternehmerische Verantwortung in unserer Zeit".

Der 62-Jährige Manager und Arbeitgeberpräsident war in Minden aus Anlass des Jubiläums "1000 Jahre Markt-, Münz- und Zollrecht" zu Gast. Am Montag, dem 5. September ermordeten Terroristen der Roten Armee Fraktion (RAF) in Köln Fahrer und Begleiter Schleyers und entführten den Verbandsfunktionär, um inhaftierte "Genossen" frei zu pressen.

Das wochenlange Drama spitzte sich mit der Entführung der Lufthansa-Maschine Landshut durch arabische Terroristen weiter zu. Als diese Flugzeugentführung durch ein Unternehmen des Bundesgrenzschutzes gewaltsam beendet wurde, ermordeten die deutschen Kidnapper Schleyer am 19. Oktober.

Der gebürtige Mindener Lutz Hachmeister ist Hochschullehrer, Medienforscher und Produzent. 2003 sendete die ARD seine mit dem Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnete Dokumentation "Schleyer. Eine deutsche Geschichte". Unter diesem Titel ist bei C.H. Beck ein 447 Seiten starker Band erschienen, in dem Hachmeister unter Mitarbeit von Matthias von der Heide, Stefan Krings und Christian Wagener die Biographie des zu Lebzeiten immer wieder umstrittenen Arbeitgebervertreters erzählt.

Hanns Martin Schleyer wirkte auf manche Bundesbürger nach 1968 wie die Karikatur eines Kapitalisten: Bullig und mit einem Schmiss aus Korpsstudentenzeiten im Gesicht. Obendrein galt Hanns Martin Schleyer als knallharter Arbeitgebervertreter, als "Aussperrer". Dazu kam die Mitgliedschaft in der SS in jungen Jahren und seine Tätigkeit beim "Zentralverband der Industrie für Böhmen und Mähren" im deutsch besetzten Prag.

Gerade Schleyers NS-Vergangenheit trug dazu bei, dass seine Entführung und Ermordung in manchen linken Kreisen allenfalls mit "Ja, aber" verurteilt wurde. Hanns Martin Schleyers Rolle von 1933 bis 1945 bildet einen Schwerpunkt der groß angelegten Studie.

"Eine deutsche Geschichte" nähert sich ihrer Hauptperson über die Familiengeschichte und das konservativ katholische Milieu, in das er 1915 in Offenburg hinein geboren wird. Hachmeister schildert den Eintritt in die Hitlerjugend und die Karriere als NS-Studentenfunktionär in Heidelberg und Innsbruck nicht nur an der Person Schleyers, sondern auch mit Skizzen der Personen in seinem Umfeld. Diese Darstellungsweise behält der Autor im gesamten Buch bei.

Lutz Hachmeister bescheinigt Schleyer im Kapitel "Der NS-Studentenführer" ein ausgeprägtes Gespür für "ökonomische Realitäten und für pragmatische Optionen innerhalb des gesetzten ideologischen Umfelds". Eine solche Haltung muss man nicht mögen. Hachmeisters Zuschreibung lässt sich im Buch auch auf Schleyers weitere Karriere anwenden.

Ohne zu beschönigen, allerdings konzentriert auf das Belegbare, wird Schleyers Rolle im besetzten Prag bis 1945 geschildert. Anders als auch von einigen Publizisten später kolportiert, lässt sich eine Rolle des späteren Daimler-Managers im Verfolgungsapparat nicht belegen, entsprechende Vorwürfe bezeichnet Hachmeister als "Wandersage" und "Räuberpistole".

Er schildert Schleyers Aktivitäten im Tagesbetrieb des Industrieverbandes, zu denen allerdings auch die "Wohnungsbeschaffung" für Bekannte und Mitarbeiter in Prag gehörte. Die junge Familie Schleyer wohnte selbst zeitweilig in einer Villa, die zuvor einem jüdischen Ehepaar gehört hatte, das im Holocaust ermordet wurde.

Hachmeisters Darstellung des Kriegsendes und der französischen Internierung Schleyers zeigt nicht nur einen typischen Fall auch trickreicher Versuche der "Entnazifizierung".

Hier scheint auch der Pragmatismus auf, mit dem Schleyer sich auf die neuen Machtverhältnisse einstellte, bevor er in den 50e-Jahren seine Industrielaufbahn als Personalchef bei Mercedes-Benz fortsetzte. Damit spiegelt die Einzelperson auch die nüchterne Haltung der gesamten Wirtschaft. Bei Daimler pflegte und nutzte Hanns Martin Schleyer auch alte Kontakte aus der NS-Zeit, wurde gefördert und förderte, baute neue Netzwerke auf. Bei Hachmeister entsteht das Bild eines gewandten Machers, "trinkfest und verlässlich", der mit Geschäftspartnern aus dem Ostblock ebenso einig werden konnte wie mit den Gewerkschaften nach erbitterten Auseinandersetzungen und nächtelangen Verhandlungen.

Schleyers Doppeltätigkeit als Vorsitzender des Bundesverbandes der Deutschen Industrie und der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände ist für Lutz Hachmeister im Vergleich zu einflussreichen Bossen wie Flick, Beitz oder Abs relativ machtlos, auch wenn Schleyer bis zur im Buch ausführlich dokumentierten Entführung rastlos seine Thesen von Unternehmertum, Markt und Allgemeinwohl verficht.

"Schleyer" ist in der Tat eine deutsche Geschichte. Ohne auf Bewertungen zu verzichten ist eine "verstehende Biografie" des Funktionärs und des Privatmannes entstanden, die Fallbeispiele, Entwicklungen, Akteure und Netzwerke spannend und gut lesbar darstellt.

Lutz Hachmeister: Schleyer. Eine deutsche Geschichte. C.H. Beck 2004, 24,90 Euro.


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