Tageblatt für Enger und Spenge / Neue Westfälische ,
01.09.2004 :
"Seit heute wird zurückgeschossen" / Heute vor 65 Jahren begann der Zweite Weltkrieg / Zeitzeuge August Wehrenbrecht erinnert sich
Von Simone Flörke
Spenge/Enger. Der 1. September 1939, ein einschneidendes Datum in der deutschen Geschichte. Der Beginn des Zweiten Weltkriegs heute vor 65 Jahren. Der Spenger August Wehrenbrecht (84) erinnert sich genau an die Rede Adolf Hitlers nach dem deutschen Überfall auf Polen, der als "aufgezwungener Krieg" dargestellt wurde, und an die bedeutungsschwere Zeile "Seit heute Morgen 4.45 Uhr wird zurückgeschossen".
19 Jahre war Wehrenbrecht damals, hatte das Ohr am Radio an seinem Arbeitsplatz, der Sparkasse in Herford. "Die Stimmung war gedrückt", sagt Wehrenbrecht über die Wochen und Monate zuvor. "Ein hektischer Sommer, eine Meldung jagte die andere. Krieg lag in der Luft."
Auch wenn er als junger Mann den Sommer noch unbeschwerter als mancher Erwachsene genoss, im improvisierten Freibad in der Werburg-Gräfte schwimmen oder ins Hotel Heitmann tanzen ging. "Dort gab es eine Vier-Mann-Kapelle, und über dem Parkett drehte sich eine bunte Scheibe, so dass die Tanzpaare von verschieden farbigem Licht angestrahlt wurden." Im Kino am Blücherplatz erfuhr er bereits 1938 in der Wochenschau vom Anschluss Österreichs an Deutschland, sah die mit Blumenkränzen geschmückten Panzer und die jubelnden Menschenmassen. "Und ein Jahr später war Krieg."
Ende April 1939 war Wehrenbrecht noch in Hamburg zu einem Lehrgang der Sparkasse, sah dort im Hafen das fast fertige Schlachtschiff "Bismarck" und den Großsegler "Seute Deern" liegen. Im Monat zuvor hatte der junge Mann seine Einberufung zum Reichsarbeitsdienst erhalten, weil er aber die Gemeindeverwaltungs- und Sparkassenschule in Bielefeld besuchte, wurde dies zurückgestellt.
Wehrenbrecht musste nicht zum Arbeitsdienst. Der Krieg kam dazwischen. Er musste im März 1940 Soldat werden und blieb es bis Oktober 1944, als er nach einer schweren Kriegsverletzung nach Hause entlassen wurde.
Schon im Herbst 1938 seien nach dem Reichsparteitag in Nürnberg mit der Sudetenkrise dunkle Wolken über Deutschland aufgezogen, erzählt der 84-Jährige. "Schon damals kamen Flüchtlinge aus dem Sudetenland auch nach Herford", erinnert er sich vornehmlich an Kinder und Jugendliche. Dann ein Aufatmen, der Münchner Vertrag, eine friedliche Lösung. Bis zum März 1939, als Böhmen-Mähren und ein Teil der Tschechoslowakei von Hitler besetzt wurden.
Wehrenbrecht erfuhr es aus den Zeitungen: "Es sprach sich in der Region schnell rum. Wir Jugendlichen dachten uns nichts dabei, doch es war schon komisch. Aus meiner heutigen Sicht war dies der Anfang vom Ende."
Die Rundfahrt der "alten Garde" der NSDAP durch Westfalen-Nord
Die Situation sei zum Knistern gespannt gewesen nach Hitlers weiteren Forderungen an Polen. Im Juni erlebte Wehrenbrecht die letzte Rundfahrt der "alten Garde" der NSDAP durch Westfalen-Nord, wie es damals hieß: "Die Straßen in Enger waren geschmückt, in Herringhausen sogar ein unschönes Haus mit Grün verkleidet, alles frisiert." Das holprige Kopfsteinpflaster in der Niedermühlenstraße sei extra mit Teer überzogen worden, "damit die Parteimitglieder nicht so durchgerüttelt wurden." In offenen Wagen seien diese, begleitet von einer Polizei-Motorrad-Eskorte, zur Wittekind-Gedächtnisstätte gefahren, wo eine germanische Schmiede aufgebaut war, und hätten einen Kranz niedergelegt. Mit dabei: Reichsorganisationsleiter Dr. Robert Ley, der Gauleiter von Westfalen-Nord, Dr. Alfred Meyer, und viele Kreisleiter, die von Herford über Enger nach Spenge und weiter fuhren.
"Ganz brenzlig" sei es Ende August 1939 geworden. Die Situation mit Polen habe sich zugespitzt. Der Geheimvertrag mit Russland, das nach einer deutschen Besetzung Polens die Hälfte abgekommen sollte, sei nach außen als Nichtangriffspakt mit Russland verkauft worden: "Doch die Bevölkerung wollte – anders als beim Ersten Weltkrieg – diesen Krieg nicht, viele hatten die Nase voll von dem, der erst gut 20 Jahre zuvor zu Ende gegangen war", sagt Wehrenbrecht. Ende August seien Lebensmittelkarten verteilt, Pferde bei den Landwirten gemustert und Reservisten eingezogen worden. Dann kam der 1. September 1939 ... Und nichts sollte mehr so sein wie zuvor.
August Wehrenbrecht widmet sich der Heimatgeschichte und hat mehrere Bücher geschrieben. Seine Erinnerungen an den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg hat er in dem Buch "Wir gebrannten Kinder – vierzehn wiedergefundene Jahre" ausgeschrieben; Frieling-Verlag Berlin, 1998.
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