Lippische Landes-Zeitung ,
11.08.2004 :
Schüsse am Löwenfluss / Großvater der Württenbergers aus Oesterholz war vor 100 Jahren als Soldat in Deutsch-Südwest
Von Ulrich Pfaff
Schlangen/Oesterholz-Haustenbeck. Die Seiten sind stellenweise etwas vergilbt, manche an den Rändern eingerissen. Irgendwann vor noch nicht allzu langer Zeit wurde es neu gebunden. Im Personen-Verzeichnis hat der frühere Besitzer etliche Namen mit einem Bleistift angekreuzt. "Arendt, Rudolf, Sergeant", "von Baehr, Oberleutnant", "Glaßel, Feldwebel", "von Haselberg, Oberarzt Dr." und viele andere. "Das waren wohl Leute, die er gekannt hatte", vermutet Reinhard Württenberger - denn das Buch gehörte seinem Großvater Arthur Württenberger. "Deutsche Reiter in Südwest", gedruckt noch vor dem Ersten Weltkrieg, erzählt in zeitgenössischer Weise vom Krieg der deutschen Schutztruppen in Südwest-Afrika gegen die Eingeborenen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, den der Großvater selbst miterlebt hatte.
Arthur Württenberger, 1888 in Kassel geboren, war von März 1903 bis Oktober 1906 als Soldat in Deutsch-Südwest - das hat sein Enkel Reinhard anhand einer "Tropendienstlichen Bescheinigung" rekonstruiert, die aus dem Nachlass seines Großvaters stammt. Viel davon ist nicht übrig, denn Arthur Württenberger wurde 1944 in Kassel ausgebombt und verlor dabei seine Frau und einen Großteil seiner Habe. Das ihm offenbar sehr wertvolle Buch, ein schwerer Wälzer mit dem Untertitel "Selbst-Erlebnisse aus den Kämpfen in Deutsch-Südwest-Afrika", konnte er neben persönlichen Dokumenten retten, bevor er bei seinem Sohn Kurt in Oesterholz unterkam, der damals stellvertretender Leiter der Panzerversuchsstation in Haustenbeck war.
Reinhard Württenberger, 1946 in Oesterholz geboren, erinnert sich nur noch vage an die Erzählungen des Großvaters, der 1955 starb. "Er hat sich sehr viel mit diesem Buch beschäftigt", erzählt der Enkel, "es war dann auch stark abgenutzt" - oft hätten sie gemeinsam drin geblättert, der Großvater habe die Bilder erklärt. Das Buch sei mit die Lieblingslektüre ihres Schwiegervaters gewesen, erinnert sich auch Lina Württenberger (82), "der war so ein richtiger Afrikaner". Das ist auch auf einem der wenigen Fotos zu erkennen, die von Arthur Württenberger existieren: Ein älterer Mann in Uniform mit mehreren Medaillen und dem für die deutschen Kolonialtruppen typischen Buschhut - der offensichtlich noch Jahrzehnte nach seiner Zeit in Afrika mit Stolz auf seinen Dienst zurückblickt.
Möglicherweise nicht ohne Grund. Denn an eines kann sich Reinhard Württenberger noch erinnern. Sein Großvater, der übrigens in der Schlacht am Waterberg (die sich heute zum 100. Male jährt) eine Schussverletzung am Arm erlitten hatte, habe einem Offizier namens von Oppen in einem Gefecht das Leben gerettet.
Diese Geschichte findet sich tatsächlich in dem Buch - kurioserweise ist sie nicht angestrichen, und weder Lina noch Reinhard Württenberger könnten sie aus dem Gedächtnis wiedergeben. Aber die Schilderung und die Tatsache, dass Arthur Württenberger damals den Rang eines Unteroffiziers bekleidete, lassen kaum Zweifel zu.
"Eine Kugel durch Arm und Brust"
Leutnant von Oppen
Am 5. Mai 1906 war die Kompanie, in der Leutnant von Oppen einen Zug befehligte, bei Gawachab am Löwenfluss eingesetzt - sie kämpfte gegen die Nama, von den Deutschen "Hottentotten" genannt, die sich unter ihrem Führer Jakob Morenga bereits kurz nach der Niederschlagung des Herero-Aufstandes ebenfalls erhoben hatten. Die Kompanie verfolgte eine Nama-Gruppe, die im trockenen Bett des Löwenflusses nach Südwesten zog.
Am Uferrand bezogen die Soldaten Stellung und eröffneten das Feuer auf die etwa 30 gut bewaffneten Eingeborenen, die sich daraufhin ins dichte Gebüsch zurückzogen. Von Oppen sollte mit seinem Zug das zurückgelassene Vieh der Namas wegtreiben und begab sich mit 16 Mann vor die eigene Feuerlinie. Dort wurden die Soldaten plötzlich aus nächster Nähe beschossen: "Vorn angekommen, konnte ich sogleich übersehen, dass die Hottentotten uns weit überlegen waren", hielt von Oppen in seinem Bericht fest, der in dem Buch abgedruckt ist. Er ließ angesichts der Lage seine Männer nacheinander vom linken auf den rechten Flügel wechseln, um dann auf die Kompanie zurückgehen zu können - als er sich aus der Deckung wagte, um den Gegner sehen zu können, bekam er "von halblinks eine Kugel durch Arm und Brust". Von Oppen: "Mein Gedächtnis hat mich unmittelbar nach der Verwundung etwas verlassen. Ich weiß noch, dass ein Unteroffizier mich einige Schritte aus der Schützenlinie zog". Der Leutnant wurde geborgen, versorgt und nach Gawachab gebracht.
Arthur Württenberger sei aus Verbundenheit gelegentlich bei dem Adligen eingeladen gewesen. Auf dem Gut der Familie von Oppen in Ostdeutschland sei er mit seiner jungen Familie einmal sogar Kaiser Wilhelm II. begegnet. Reinhard Württenberger erzählt die Anekdote: "Mein Vater war da noch ganz klein. Der Kaiser hat ihn mit einem Stück Schokolade in der Küche durch die Gosse gelockt. Meine Großmutter muss sich da sehr aufgeregt haben, aber der Kaiser hätte nur gesagt: Man kann den Kleinen doch waschen."
Stichwort: Kämpfe in Südwest
Deutsch-Südwestafrika, das heutige Namibia, war zu Beginn des Jahres 1904 von 4500 Weißen bewohnt - nur die Hälfte davon waren Deutsche. Die Eingeborenen gehörten zu den Stämmen der Herero und der Nama, die von den Deutschen "Hottentotten" genannt wurden. Der Herero-Aufstand, der im Januar 1904 begann, löste ein umfangreiches militärisches Engagement aus: Aus Deutschland wurden zu den ursprünglich vorhandenen 766 Soldaten 15 000 weitere nach Deutsch-Südwest geschickt, von denen aber nur 3000 an den Kampfhandlungen teilnahmen. Die Kämpfe zogen sich bis Oktober hin - den Deutschen gelang es zwar nicht, ein Gefecht gegen die Herero-Krieger zu gewinnen, sie aber samt ihren Familien und ihrem Vieh in Richtung des britischen Betschuanalandes (heute Botswana) in die Omaheke-Wüste zu treiben, wo Tausende von ihnen durch Wassermangel umkamen. Das rücksichtslose Vorgehen des Kommandierenden General von Trotha gegen die Herero wird heute als Völkermord gewertet. In den folgenden Jahren machten immer wieder Nama-Gruppen das Land unsicher, die einen zähen Guerilla-Krieg gegen die deutschen Kolonialtruppen führten. Dieser endete erst 1907.
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