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Lippische Landes-Zeitung , 29.07.2004 :

Tunnelblick ins Unheil / Wie ein Polizist zum Straftäter wurde

Von Thorsten Engelhardt

Detmold. Ein Mann bedroht einen Ladeninhaber mit einer Waffe, will Geld. Er bekommt keines, wird auf der Flucht überwältigt und vom Detmolder Landgericht gestern wegen versuchten schweren Raubes zu drei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Das ist der Kern, aber es ist noch nicht die ganze Geschichte. Denn Andreas H. (Name geändert) war Polizeibeamter, die Waffe seine Dienstpistole, und das Motiv für die Tat ist allen, die ihn kennen, schwer bis gar nicht verständlich. Es waren 8000 Euro Schulden und die Hemmung, mit der eigenen Frau über die Probleme zu sprechen.

Sechs Stunden Zeit nahm sich die große Strafkammer unter Vorsitz von Richter Michael Reineke gestern, um das Geschehen zu klären und abzuwägen. Andreas H. ist 46 Jahre alt, seit seinem 17. Lebensjahr ist er Polizist. Zuletzt arbeitete er als Kriminaloberkommissar in Detmold. Alle Kollegen beschreiben ihn als nett, zurückhaltend, zuverlässig und hilfsbereit.

Am 24. Februar 2004 nimmt dieser Mann morgens zum Dienst unter anderem eine Skimaske mit, steckt seine Dienstpistole ein und sein Reizgas-Sprühgerät. Schließlich landet er vor dem ihm bekannten Geschäft Pilling. Maskiert marschiert er hinein. Im Büro setzt er dem Inhaber Klaus-Jürgen Pilling (60) die Waffe auf den Körper und fordert Geld. Das kann Pilling nicht herausgeben, Schmuck will der Täter aber nicht haben. Dem Kaufmann gelingt es, den Räuber aus dem Büro zu drängen, er wirft die Tür zu und stemmt sich dagegen. Klaus-Jürgen Pilling hat noch heute Schmerzen und auch die Angst noch nicht vergessen. "Dass ich zuerst nur die Maske halb gesehen habe, dass vergisst man nicht", sagt er vor Gericht.

Pillings Sohn Guido verfolgt den Täter und überwältigt ihn auf der Straße. Ein Polizeibeamter aus Bielefeld, zufällig am Ort, greift ein. Gemeinsam halten sie den Mann, der mit Reizgas sprüht, fest. Weitere Beamte erkennen den Täter als Kollegen. "Warum hast du das getan?", ist ihre große Frage, die auch das Gericht ganz besonders beschäftigt. Wie kann ein Polizist alles wegwerfen, was er sich aufgebaut hat? Eine Antwort hat H., der den Überfall gestanden hat, darauf letztlich nicht. "Ich kann es mir nicht erklären." Das Einzige, was er nach eigenen Angaben wusste, war: "Du musst was tun, es kann so nicht weitergehen." Und so habe er in der Nacht vor der Tat erstmals über einen Überfall nachgedacht.

H. hatte Schulden. Sein Konto war mit 8000 Euro in den Miesen, Abbuchungen waren von der Bank storniert worden. Von H's Konto gingen unter anderem alle Zahlungen für das Haus der Familie ab. Seine Frau hingegen hatte Geld, auch wenn sie den Lebensunterhalt bestritt.

Kein Gespräch über Geldsorgen

Doch H. konnte nicht mit ihr über seine finanziellen Probleme sprechen. "Ich habe mich geschämt", sagt er. Seine Frau hat keine Erklärung dafür. Er habe sich in solchen Momenten vermutlich als Versager gefühlt, sagt sie unter Tränen. Ihr Mann habe unter großer Arbeitsbelastung gelitten. Das bestätigt auch H.. "Aber damit will ich mich nicht herausreden", sagt er. "Es tut mir Leid, was ich der Familie Pilling, meiner Familie und der Polizei angetan habe."

Für den psychologischen Gutachter Dr. Horst Sanner ist H. ein Mensch, der Ärger in sich hineinfrisst und Konflikten aus dem Weg geht. Er sieht Denkfehler in der subjektiven Bewertung der Lage durch den Angeklagten. "Er hatte einen Tunnelblick, sah nur noch die Schulden vor sich, die auf ihn wie ein riesiger Berg wirkten." Auch wenn das objektiv nicht so aussehe. Dabei sei für H. auch sein Leben als Polizeibeamter aus dem Blickfeld verschwunden.

All das wägt Oberstaatsanwalt Dieter Varnholt in seinem Plädoyer ab und erkennt Umstände, die für einen minderschweren Fall sprechen. Heute, da ist Varnholt sicher, würde H. die Tat am liebsten ungeschehen machen. Aber er hat den Raub versucht. Deshalb fordert Varnholt drei Jahre und sechs Monate Haft. Verteidiger Dr. Holger Rostek stimmt dem Staatsanwalt in vielen Punkten zu, aber nicht in der Bewertung. Die Tat sei ein erhebliches, aber ein einmaliges Versagen. Sein Mandant werde seinen Beamtenstatus verlieren. "Er hat gebüßt und wird weiter büßen." Deshalb plädiert Rostek auf eine Bewährungsstrafe.

Dem folgt das Gericht nicht. "Wir dürfen nicht nur auf den Angeklagten sehen, sondern auch auf das Opfer. Es hat Todesangst gehabt. Das muss hier ganz deutlich werden", greift Richter Reineke das Plädoyer des Nebenklage-Vertreters Arnd Kuhlmann auf. Aber Reineke würdigt auch die Einlassungen des Angeklagten. Er habe sich in einer Sackgasse gesehen, keiner habe seine Probleme bemerkt. "All das ist gut vorstellbar, auch wenn man es nicht verstehen kann." Jetzt sei seine berufliche Laufbahn kaputt, und er müsse privat ebenfalls viel reparieren. "Wenn unser Verfahren dazu beiträgt, dass der Angeklagte Ordnung in sein Privatleben bringt, dann ist vieles gewonnen." Der Beruf des Angeklagten sei nicht strafverschärfend, weil die Tat nicht im unmittelbaren Kontakt zu seiner Berufsausübung gestanden habe.

Drei Jahre und drei Monate Haft lautet das Urteil, bis zum Haftantritt kommt H. auf freien Fuß. Für Dr. Rostek ist die Strafe zu hoch, er will in die Revision gehen. "Angemessen" findet hingegen Jürgen Koch, Leiter der Polizeiinspektion Detmold, den Spruch. Er hat mit Kollegen den Prozess verfolgt. Auch Pillings haben ausgeharrt. Groll hege er nicht, hat Klaus-Jürgen Pilling am Morgen gesagt. Und so steht er nach dem Urteil auf und gibt dem Angeklagten ganz zum Schluss des Tages die Hand.



Weiterer Artikel: (Detmold) Glückliche Kinder in Gewahrsam genommen

Detmold. Interessante Stunden haben 15 Kinder gestern Vormittag bei der Polizei in Detmold erlebt. Sie gehören zu den Glücklichen, die einen Platz für einen Besichtigungstermin des Polizeigebäudes und der Streifenwagen ergattern konnten. Bereits seit sechs Jahren organisiert das Jugendamt Detmold im Rahmen des Sommerferienprogramms Besichtigungen bei der Polizei. Die Faszination, einmal in einem Streifenwagen zu sitzen, in einer Gewahrsamszelle zu hocken oder die Ausrüstungsgegenstände in die Hand nehmen zu dürfen, war den kleinen Gästen deutlich anzumerken. Begeistert waren sie von einem Abdruck ihres rechten Zeigefingers, den sie mit nach Hause nehmen durften. Ein weiterer Besuchstermin ist für den 25. August geplant. Dennoch konnten nicht alle Kinderwünsche erfüllt werden. Etwa 50 Kinder stehen noch auf einer Warteliste. Ihnen bleibt leider nur der Trost, dass es ja vielleicht im kommenden Jahr klappt.


detmold@lz-online.de

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