Neue Westfälische ,
22.08.1987 :
Diaserie über Zustände im Stalag 326 entdeckt / Ex-Lagerarzt bestätigt hohe Sterblichkeitsrate im Lager Stukenbrock
Von Volker Pieper
Schloß Holte-Stukenbrock (Eig. Ber.). Neugierige Heimathistoriker, die nach dem Krieg etwas über das Stalag 326 (VI/K) in Stukenbrock wissen wollten, hatten es nie leicht: verschlossene Zeitzeugen, ein dürftiges, weitverstreutes Aktenmaterial, sehr wenige Fotos. Der Mangel an aussagekräftigen Bilddokumenten über das frühere Kriegsgefangenenlager zwischen Bielefeld und Paderborn führte gar dazu, dass in einer seit 1975 vom Arbeitskreis "Blumen für Stukenbrock" herausgegebenen Informationsbroschüre über das Lager und den heutigen sowjetischen Ehrenfriedhof auf Fotos aus dem KZ Bergen-Belsen zurückgegriffen wird. Diese Bilder könnten auch in Stukenbrock aufgenommen sein, lautet der Text darunter.
Darstellungshilfen dieser Art sind jetzt überflüssig. Ein Bürger der Gemeinde Schloß Holte-Stukenbrock hat 42 Jahre nach der Befreiung des Lagers durch Zufall eine ganze Farbdiaserie über die ersten beiden Jahre des Lagers entdeckt. Und dazu auch noch den Fotografen. Es ist der frühere deutsche Lagerarzt, der heute - fast 80jährig - zwei Autostunden von Stukenbrock entfernt lebt.
Seine Fotos, die unsere Zeitung exklusiv veröffentlicht, vermitteln zum ersten Mal so etwas wie Authentizität. Was auf den bisher bekannten rund ein Dutzend Schwarzweißbildern zumeist nur schemenhaft zu erkennen ist, wird jetzt farbig und scharf belegt: die katastrophalen Umstände, unter denen die Russen in Stukenbrock lebten und starben. Der Arzt hat zum Beispiel die Erdhöhlen fotografiert, in denen die ersten Kriegsgefangenen des Lagers bis zum Winter 1941/42 hausen mussten. Erst nach und nach wurden die Baracken fertiggestellt. Sie waren beheizbar. Dem strengen Winter 1941/42, als die Temperaturen in der Senne zeitweise auf minus 29 Grad sanken, konnten jedoch auch sie nicht trotzen. Zahlreiche sowjetische Gefangene erfroren, weil nicht immer genügend Brennmaterial zur Verfügung gestellt wurde.
Auch für solche Detailinformationen ist der ehemalige Lagerarzt gut. Das, was er von damals noch weiß, hat er seinem Kontaktmann aus Schloß Holte-Stukenbrock zusammen mit den Dias gleich mitgeliefert. Er beschrieb ihm die mangelhafte Ernährung der Gefangenen, die unhaltbaren hygienischen und sanitären Zustände, die Schikanierungen und Folterungen durch die SS, die Gründe für die hohen Sterblichkeitsraten.
Dystrophie, damals Hungerödem genannt, sei due Haupttodesursache gewesen, erinnert er sich. Auch Infektionskrankheiten wie Cholera und Ruhr seien verstärkt vorgekommen, Fleckfieber dagegen weniger. Andere akute und chronische Erkrankungen, die damals vielfach zum Tode führten, waren nach Angaben des Arztes Lungenentzündungen, Kreislaufversagen und nichtinfektiöse Darmerkrankungen. Als weitere Ursache nennt er die oben bereits erwähnte bittere Kälte des Winters 1941/42.
Zwischen Juli 1941 und Oktober 1942 seien etwa 2000 sowjetische Gefangene umgekommen, schätzt der ehemalige Lagerarzt. Er räumt allerdings ein, dass auf diese Zahl nicht unbedingt Verlass ist. Es habe technische Schwierigkeiten bei der Listenführung gegeben, erklärt er. Die Masse der Kriegsgefangenen sei ja kaum zu übersehen gewesen.
Die Fotos des Arztes unterstreichen seine Schilderungen. Da wird der durchschnittliche körperliche Zustand dokumentiert, den ein Gefangener bei seiner Ankunft im Lager hatte. Ein anderes Bild zeigt eine Gruppe Gefangener beim Zubereiten einer kargen Mittagsmahlzeit, die in der Hauptsache oft nur aus Steckrüben bestand. Auf einer anderen Aufnahme postieren sich zwei gutgenährte Wehrmachtsangehörige stolz vor einem Gemüsebeet. Es liegt, für die Gefangenen unerreichbar, unmittelbar vor dem Stacheldrahtzaun des Lagers.
Gut 50 Dias gehören zu der Serie. Sie sollen jetzt - so will es der neue Besitzer - so schnell wie möglich der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Deshalb hat er inzwischen auch mit den Verantwortlichen der CDU-regierten Gemeinde Kontakt aufgenommen. Sie wollen das Materail sichten, heißt es dort, möglicherweise soll der Rat die Bilder zuerst zu Gesicht bekommen.
Ob auf diesem Wege tatsächlich der Wunsch des Finders erfüllt wird, bleibt abzuwarten. Bislang hat die Gemeinde zu diesem ortsgeschichtlich brisanten Thema immer nur gesammelt. Eine von der Gemeinde initiierte umfassende Dokumentation, in welcher Form auch immer, ist nicht in Sicht. Anfang der 80er Jahre beschloss der Rat zwar die Herausgabe eines Buches über das Stalag 326. Man brauchte dann allerdings bis zum Juni diesen Jahres, um allein den Autor festzulegen. Nach kontroverser Debatte fiel die Wahl schließlich auf den Paderborner Geschichtswissenschaftler Prof. Dr. Hüser.
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