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Lippische Landes-Zeitung , 23.01.1990 :

Offener Brief an den Lemgoer Stadtjugendpfleger / "Problem Neofaschismus nicht herunterspielen"

Sehr geehrter Herr Müller,

aufgrund der Presseberichterstattung über die letzte Jugendwohlfahrtsausschusssitzung möchten wir unsere Verwunderung darüber zum Ausdruck bringen, dass Sie versuchen, das Problem des Neofaschismus herunterzuspielen. Unserer Meinung greift Ihre Erklärung, bei dem Personenkreis handele es sich um einige wenige erziehungsschwierige Jugendliche, denen man mit sozialpädagogischen Mitteln helfen müsse, zu kurz. Wir haben große Hochachtung vor der Arbeit der Mitarbeiter des Jugendzentrum, die sich große Mühe mit solcherart gefährdeten Jugendlichen geben, was allerdings von diesen und ihren Kumpanen von der "Nationalistischen Front" nicht honoriert, sondern ins Gegenteil verkehrt wird, indem sie Mitarbeiter bedrohen, für ihre Ziele werben und Hetzaufkleber verbreiten. Unseres Wissens sind bereits Hausverbote ausgesprochen worden. Auch vorbeugende Maßnahmen wie etwa Theaterstücke bei Stücken mit eindeutig antifaschistischem Inhalt nützen wenig, da sie sich an Jugendliche richten, die dem kulturellen Geschehen aufgeschlossen gegenüber stehen.

Selbst wenn das Problem (in Ihrem Sinne) begrenzt ist, so ist doch zu fragen, wie es dazu kommen konnte, dass es in Lippe trotz der von den Jugendämtern propagierten Sozialarbeit mehrere Dutzend jugendliche Neofaschisten und noch mehr Sympathisanten gibt. Wir empfehlen Ihnen, sich einmal mit den Analysen des Bielefelder Jugendforschers Professor Wilhelm Heitmeyer auseinanderzusetzen, der eine eindeutige Veränderung der klassischen Jugendarbeit und der politischen Bildung der Schule fordert. Im übrigen schenkt der Innenminister im kürzlich erschienen Verfassungsschutzbericht der rechtsextremistischen Szene erhöhte Aufmerksamkeit!

Beherrschbar wird das Problem nicht, wenn man wie Sie der Meinung ist, dass man diese Extremistengruppe durch Diskussion in der Öffentlichkeit nur noch mehr Aufmerksamkeit und Publizität verschafft. Offenbar sind die Erziehungsinstitutionen wie Elternhaus, Schule usw., die demokratischen Instanzen und Parteien nicht in der Lage, einer sich ausbreitenden Zahl von Jugendlichen die Erziehung angedeihen zu lassen, die sie auftrags- und pflichtgemäß zu geben haben. Den Vertrauensverlust machen sich die illegalen rechtsextremistischen Gruppen und die zugelassenen Parteien (DVU-Liste D, NPD, Republikaner) und die hinter ihnen stehenden Alt-Nazis zunutze und ködern Jugendliche mit einfachen Lösungsangeboten ihrer sozialen Probleme. Sie geben Antworten und vermitteln Gemeinschaftserlebnisse, die Familien- und öffentliche Erziehung nicht mehr imstande sind, zu geben.

Auch die Politiker im Lemgoer Jugendwohlfahrtsausschuss scheinen zu schlafen, sonst hätten Sie Ihnen widersprochen! Von der oft beschworenen "Gemeinsamkeit der Demokraten", die gegen den Extremismus vorgehen müssen, scheint in Lemgo nichts bekannt zu sein.

Die verdeckt oder offen neofaschistischen Gruppen und Parteien betreiben Werbung nicht nur mit Postwurfsendungen, sondern auch an lippischen Haupt- und Realschulen, Gymnasien und Berufsschulen. Was dort in Wort und Schrift an Ausländerfeindlichkeit und Hetze verbreitet wird, geht sehr weit - bis hin zu Bedrohungen und Gewaltanwendungen. Die aktuellen Entwicklungen in der DDR fördern eine Deutschtümelei, die in den Schriften bis hin zu Großmachtsgefühlen überhöht wird. Wir besitzen Propagandamaterial (z.B. Schülerzeitungen), das an verschiedenen Lemgoer Schulen verteilt worden ist.

Wir erwarten von Ihnen eine Stellungnahme. Etwa auch zu solchen Vorkommnissen wie Wehrsportübungen, mit Baseballschlägern bewaffnete Jugendliche, die an ihrer uniform ähnlichen Kleidung zu erkennen sind, zu offen in Lemgo zur Schau gestellter Hakenkreuz ähnlicher Flaggen, zu Bedrohungen von Personen, zu Schmiereien an der Alten Abtei und Remise, zu Beschädigungen im Studentenclub, zu Skinheadtreffen in Lemgo usw. usw.

Bürgertreff Räuber Hotzenplotz und Studentenclub Lemgo e.V.


Lemgo@lz-online.de

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