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Lippische Landes-Zeitung , 25.04.2002 :

Recht amtlich abgeschoben / Wie Behörden und Gerichte eine zwölfköpfige kurdische Familie aus Detmold in die Türkei zurückschicken wollen

Von Stefan Derschum

Detmold. Nach sechs Jahren in Detmold steht die Rückreise in die Türkei unmittelbar bevor. Die kurdische Familie Sit - Muhsin und Meryem und ihre zehn Kinder im Alter zwischen 1 und 18 Jahren - brauchen nur noch die Passersatzpapiere vom Türkischen Konsulat in Münster, und die Stadt Detmold kann abschieben. "Wahrscheinlich in den nächsten Wochen, es liegt kein Abschiebungshindernis mehr vor", sagt Uwe Rieks von der Detmolder Ausländerbehörde. Rieks handelt nach Aktenlage, der Asylantrag sei abgelehnt worden, die Entscheidungen vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (BAFl) und des Verwaltungsgerichts Minden bindend: Abschiebung folgt. Bald.

Der Weg in die Wohnung der Familie Sit birgt Hürden im Treppenhaus. Dutzende Kinderschuhe in der Zwischenetage erfordern einen ausladenden Schritt, um auf den nächsten Treppenabsatz zu gelangen. In der ersten Etage lugen Kinder in leiser Neugier um die Ecke: Gülistan, Abdulaziz, Abdulkadir, Serhat. Der restliche Nachwuchs von Muhsin und Mereyem Sit strömt ruhig in das karge Wohnzimmer, das von einem riesigen Ecksofa beherrscht wird, und hockt sich auf den roten Perserteppich. Jetzt ist die Familie Sit komplett. Atiye, Hamdiye, Kadriye, Sükran, Adile und Serhat. Der vier Jahre alte Serhat, bei dem die Verschmitztheit fröhliche Grübchen in die Wangen beult, versteht jedes deutsche Wort. Er wurde in Deutschland geboren, geht hier in den Kindergarten. "Kein kurdisch, nur deutsch, nur deutsch", sagt seine Mutter und lächelt dabei.

Sein Vater lächelt jedoch nicht, als er später im Gespräch durch Ferhat Akman vom Internationalen Beratungszentrum (ibz) übersetzen lässt: "Wie sollen sich meine Kinder in der Türkei noch zurechtfinden? Das ist nicht mehr ihre Heimat." Für das BAFl und das Verwaltungsgericht Minden ist das kein Abschiebungshindernis und Uwe Rieks wird sagen: "Es besteht auch kein Vollstreckungshindernis."

Muhsin Sit hat seine Heimat, ein kleines Dorf nahe der Stadt Mardin in der Türkei, im Frühjahr 1996 verlassen. Wenn er die Gründe für die Flucht nennt, spricht der hagere Mann von "Folter" und "Verhaftung", und seine Augen scheinen dabei noch tiefer in den dunklen Höhlen zu versinken, zwischen denen sich ein kantig-knöcherner Nasenrücken erhebt. Und dann sprudeln seine Worte in den Block von Ferhat Akman, als er eine türkische Militäroperation beschreibt: "Soldaten kamen in das Dorf. Ich floh, sie schossen auf mich und trafen meine rechte Hand." Anschließend hätten sie mit Knüppeln auf seinen Kopf eingeschlagen. "Nach diesem Vorfall habe ich mich ständig verfolgt gefühlt, ich habe seitdem häufig Kopfschmerzen und Schwindelgefühle", sagt Muhsin Sit. Und dass er sich deshalb seit mehr als anderthalb Jahren in psychiatrischer Behandlung befände. Im Gutachten der behandelnden Ärztin, Dr. Angelika Claußen aus Bielefeld, steht: "Er leidet unter einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung ... Es kann dabei (der Rückführung zu den Orten des Traumas, Anm. d. Red.) zu Kurzschlusshandlungen und zu Suizid kommen." Ein Schreiben der Detmolder Ausländerbehörde vom 21. März dieses Jahres, das Ferhat Akman auf den Wohnzimmertisch der Sits legt, stellt jedoch nüchtern fest: "Seitens der BAFl und des Verwaltungsgerichts Minden wurde die geltend gemachte psychische Erkrankung bereits in die getroffene Entscheidung einbezogen und führte ebenfalls nicht zur Anerkennung eines Abschiebungshindernisses." Und Uwe Rieks wird sagen: "Auch bei drohender Suizidgefahr besteht kein Abschiebungshindernis."

"Ich weiß, ich werde gefoltert"
Muhsin Sit

Muhsin Sit taucht wieder ein in die Chronologie seiner Flucht. Im Fühjahr 1996 hätten sie sich entschlossen, "Kurdistan" zu verlassen. Mit seiner Frau und sieben Kindern reist der Kurde nach Deutschland. Eine Schlepperbande kassiert umgerechnet 15.000 Mark. "Unsere Ersparnisse", erklärt er und kramt alte Sparbücher und Steuerbelege aus einem Koffer hervor. Plötzlich steht das Thema "Geld" im Raum, und als wolle Muhsin Sit dem Vorurteil "Wirtschaftsflüchtling" vehement begegnen, beginnt sich seine Stimme zu erheben: "Wir hatten genug Geld zum Leben. Es waren die Unterdrückung und die Folter. Ansonsten hatten wir keinen Grund, nach Deutschland zu kommen." Auch jetzt wolle er keine Sozialhilfe und alles tun, um nicht auf Kosten der Gesellschaft zu leben. Seit neun Monaten arbeitet der Kurde als Schleifer in einer Bielefelder Metallfabrik. Nettolohn: 1099 Euro. Die Miete - 1000 Euro inklusive Nebenkosten für 73 Quadratmeter - überweist er regelmäßig an die Stadt Detmold. Bleiben etwa 100 Euro und das Kindergeld, 1715 Euro, für den Lebensunterhalt einer zwölfköpfigen Familie. "Wir wollen unseren Beitrag hier leisten", bekräftigt Muhsin Sit noch einmal und wird immer leiser. Ferhat Akman übersetzt: "Ich weiß nicht genau, was passiert, wenn ich in die Türkei zurück muss. Aber ich weiß, dass ich gefoltert werde."

Wenn Ferhat Akman, der als ibz-Mitarbeiter die Familie Sit berät, seine derzeitige Tätigkeit beschreibt, klingt das wenig optimistisch: "Wir behandeln zur Zeit 180 Fälle, und keiner ist sicher. Ich habe das Gefühl, dass in letzter Zeit fast nur noch abgeschoben wird." Auch für die Familie Sit laufen die Dinge wenig günstig. BAFl und Verwaltungsgericht Minden haben den Asylantrag abgelehnt. Der Folgeantrag liegt derzeit beim Oberverwaltungsgericht in Münster, doch das ist kein Grund, eine Abschiebung zu verschieben.

Uwe Rieks wird sagen: "Ein Urteil ist dort doch nicht absehbar. Das kann noch Jahre dauern und hat deshalb keine aufschiebende Wirkung." Und der Beamte der Stadt Detmold meint, dass er nur einen "kleinen Handlungsspielraum" habe: "Die bisherigen Entscheidungen sind bindend. Ich kann lediglich prüfen, ob ein Vollstreckungshindernis besteht. Das tut es nicht." Der Anwalt der Familie Sit, Rainer Hofemann aus Bielefeld, hatte zuvor gesagt: "Der Handlungsspielraum der Kommune ist groß. Sie könnte das Urteil des OVG abwarten und im Fall eines erkrankten Familienmitgliedes eine Aufenthaltsbefugnis erteilen. Sie könnte."

"Handlungsspielraum der Stadt ist klein"
Uwe Rieks

Nachtrag: Die Broschüre "Jugend für Toleranz und Demokratie - gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus" beginnt mit einem Vorwort des Bürgermeisters. Das Vorwort endet mit dem Satz: "Wir wollen nicht verdrängen, sondern handeln!" "Der Bürgermeister" steht auch im Briefkopf der offiziellen Schreiben der Stadt Detmold. Schreiben, wie das an die Familie Sit, in dem sie erfährt, dass sie nicht weiter geduldet wird.


Detmold@lz-online.de

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