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Die Wage - Magazin für Lippe , 02.07.1993 :

Wut, Trauer und Widerstand / Die Brandstifter sitzen in Bonn, Mölln, Solingen, ... ! / Redebeitrag auf der Demo in Bielefeld am 01.06.1993

Der dokumentierte Redebeitrag wurde gehalten auf der Demonstration in Bielefeld am 01.06.1993 von Britta Jünemann, Sprecherin des Flüchtlingsrates NRW.

Bürgerinnen und Bürger Bielefelds: Anschläge, Übergriffe und Gewalttaten gegen Ausländer gehören inzwischen fast schon zur schrecklichen "Normalität" in Deutschland. Seit März 1992 wurden mindestens 25 Menschen durch rechtsradikale Gewalttäter ermordet, ungezählte Menschen wurden verletzt. Die psychologischen Folgen für die hier lebenden Ausländer sind verheerend: sie fühlen sich ihres Lebens nicht mehr sicher. Angst. und Schrecken breiten sich auch aus unter den in Bielefeld lebenden Ausländern und Flüchtlingen. Viele, besonders Frauen, trauen sich nicht mehr allein auf die Straße. Es ist unerträglich, was in diesem Land passiert. Wir stellen uns deshalb öffentlich und demonstrativ auf die Seite der bedrohten Ausländer und Flüchtlinge. Bürgerinnen und Bürger Bielefelds, wer jetzt noch immer nicht offen das Wort ergreift für die Rechte von Ausländern und Flüchtlingen oder sich gar beteiligt an der Stimmungsmache gegen Asylsuchende, der arbeitet den Gewalttätern in die Hand und nimmt Gewalttaten wie die in Solingen billigend in Kauf.

Doch diese Serie von Gewalt gegen Menschen ist kein Verhängnis, das unvorbereitet über uns hereinbrach. Diese Gewalt hat politische und gesellschaftliche Hintergründe, und sie gedeiht auf einem fruchtbaren Nährboden, der mit bereitet wurde in Bonn. Welche Schlüsse müssen rechtdenkend Jugendliche daraus ziehen, wenn in seltener Einmütigkeit Politiker aller Parteien seit Jahren Diffamierungskampagnen gegen Flüchtlinge inszenieren, wenn sie konsequente Abschiebung fordern und immer neue Abwehrgesetze gegen Flüchtlinge beschließen? Die hässlichen Worte vom "Asylmissbrauch" und von der "Asylantenflut" appellieren an dumpfe Ängste der Menschen. Die Asyldebatte des Deutschen Bundestages letzte Woche und die Entscheidung zur faktischen Abschaffung des Asylgrundrechts sind fatale Zeichen gewesen, die der Öffentlichkeit deutlich machen, dass Flüchtlinge in diesem Land unerwünscht sind. Die Anschläge auf Ausländer und Flüchtlinge in Deutschland geschehen in einem gesellschaftlichen Klima, in dem politisch Verantwortliche zufluchtsuchende Menschen als "Eindringlinge" diffamieren.

Die Änderung des Art. 16 GG ist doch nur die etwas vornehmere Variante der 'Ausländer raus'-Parole. Die staatliche Asylpolitik hat längst alle Maßstäbe von Menschlichkeit und Vernunft außer Kraft gesetzt. Ängste vor einer angeblichen "Überfremdung" des deutschen Volkes wurden geschürt, Ängste vor angeblichen "Fluten" von Ausländern, die vor unseren Toren stehen. In einem solchen Klima des staatlich verordneten Hasses und der Irrationalität gedeiht der Hass rechtsradikaler Gewalttäter. Wir werden uns die Reden aller Politiker in der Asyldebatte des Deutschen Bundestages am 26.5.93 zukommen lassen und gegen die Verantwortlichen Anklage wegen Volksverhetzung erheben.

Wir protestieren heute gegen den feigen Mordanschlag von Solingen, aber auch und vor allem gegen staatliche Gewalt, diesen Nährboden für derartige Taten bereitet. Denn was anderes als Gewalt gegen Schwächere sind die zwangsweisen Massenabschiebungen von Flüchtlingen, ohne Rücksicht darauf, was mit diesen Menschen passiert? Was anderes als Gewalt sind Gesetze, die Flüchtlinge dazu zwingen, in Mäuseplagen zu leben, in denen man sie von der deutschen Bevölkerung isoliert? Es ist Gewalt, in welcher Weise seit Jahren die Rechte von Flüchtlingen beschnitten wurden. Das Asylverfahren, das den betroffenen Flüchtlingen jetzt noch zugestanden wird, ist doch eine Farce! Zwangskasernierung in Großlagerung, Abschiebung direkt aus dem Lager, Asyl-Eilverfahren auf exterritorialem Gebiet auf dem Flughafen, das sind nur einige Stichworte zur Charakterisierung eines Verfahrens, das keines mehr ist. Die staatliche Asylpolitik der Abschottung hat mit der faktischen Abschaffung des Grundgesetzartikels 16 nun einen neuen Höhepunkt erreicht. Die Gewaltpolitik gegenüber Flüchtlingen mit neuer Qualität, für die Infrarotanlagen an der deutschen Östrogene als schlimmes Symbol stehen. Deutschland schirmt seinen Wohlstand ab gegen Menschen, auf deren Kosten er produziert wurde.

Wut, Trauer und Widerstand

Nach Änderung des Asylrechts werden Flüchtlingen schlimme Zeiten bevorstehen. Alle Flüchtlinge, die auf dem Landweg einreisen, können sofort und ohne Rechtsschutz zurückgeschollen werden. Es wird eine Liste
sogenannter "verfolgungsfreier Herkunftsländer" geben. Flüchtlinge aus diesen Ländern haben ebenfalls keine Chance mehr, schon allein deshalb, weil sie weder Zeit noch Geld haben, um einen Rechtsanwalt zu bezahlen, der allein vielleicht etwas gegen die ungeheuerlichen Ablehnungs-Entscheidungen des Bundesamtes unternehmen könnte. Die Einwilligung der SPD in ein Asylverfahren auf dem Flughafen im Transitraum vor der Einreise war die endgültige Bankrotterklärung dieser Partei, die alle eigenen Werte über Bord geworfen hat. Nichts wird mehr sein wie vorher nach dem Parteienkompromiss gegen das Asylrecht. Daher stehen auch uns Nicht-Flüchtlingen schlimme Zeiten bevor. Die Grundlagen des sozialen Rechtsstaat und der "Demokratie" sind erschüttert, wenn Grund- und Menschenrechte Machtkalkülen und Wohlstandsegoismus geopfert werden, wenn sich eine Gesellschaft zum Kampf rüstet gegen schutzsuchende Menschen.

Es fällt schwer angesichts dieser Situationsanalyse, am Ende Forderung zu erheben, weil die gesellschaftliche Realität in diesem Land bereits so unendlich weit davon entfernt ist. Wir können nicht mehr länger nur reagieren. Daher möchte ich doch einige Forderungen nennen und damit schließen:

1. Wir fordern die Bielefelder Bevölkerung auf, Flüchtlingen Schutz vor Abschiebung zu gewähren und sich Unrechtsentscheidungen der Asylverfahren nicht zu fügen. Notfalls müssen wir unsere Wohnungen, Gemeinden und Versammlungshäuser für die bedrohten Menschen öffnen. Für die sofortige Wiedereinführung des Grundrechts auf Asyl. Für ein Bleiberecht für Flüchtlinge in Deutschland.

2. Diese Gesellschaft muss sich endlich von der völkischen Ideologie der Blutsverwandtschaft aller Deutschen verabschieden: Wer hier lebt, muss Rechte erhalten, unabhängig von seiner Herkunft. Daher fordern wir: Schluss mit den diskriminierenden Sondergesetzen gegen Ausländer.. Für das allgemeine Wahlrecht und das Recht auf Staatsbürgerschaft.

Wer Stimmung gegen Ausländer und Flüchtlinge schürt, muss Konsequenzen ziehen. Daher fordern wir den sofortigen Rücktritt der Bundesregierung und der Fraktionsvorsitzenden derjenigen Parteien, die der Abschaffung des Asylrechts zugestimmt haben. Vielen Dank.


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