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WebWecker Bielefeld , 05.05.2004 :

Ein bisschen antikapitalistisch

Etwa 3.500 Menschen beteiligten sich nach Angaben der Veranstalter in diesem Jahr am Maiaufmarsch des DGB. Bei der Kundgebung an der Ravensberger Spinnerei stand die Kritik am Sozialabbau im Mittelpunkt der Redebeiträge von Gewerkschaftern und einem Vertreter von attac.

Von Mario A. Sarcletti

Beobachter des Demonstrationszuges der Gewerkschaften zum 1. Mai trauten ihren Augen nicht: Roland Engel, Regionalvorsitzender des DGB, und Andreas Steppuhn vom Bundesvorstand der IG Bau marschierten in der ersten Reihe vor einem Transparent mit der Aufschrift "Die Arbeit nieder - Kapitalismus abschaffen". Die Gewerkschafter waren aber nicht plötzlich zu Revolutionären geworden, vielmehr hatten sich Schelme mit dem Transparent beim Abbiegen des Zuges von der Detmolder- in die August-Bebel-Straße ganz nach vorne gemogelt und konnten die Spitze bis zur Hermannstraße halten. Dort forderte Engel sie auf, sich ans Ende des Zuges zu begeben, der Einsatzleiter der Polizei drohte mit Festnahme. Der schwarze Miniblock ging daraufhin nach Hause, die etwa 3.500 anderen Teilnehmer der DGB-Demo – etwa die Hälfte von ihnen Migrantinnen und Migranten – konnten ohne weitere Zwischenfälle den Weg zur Kundgebung im Ravensberger Park fortsetzen.

Dort betonte Roland Engel, dass es bei dem diesjährigen Motto "Unser Europa - frei, gleich, gerecht" auch darum gehe, dass Europa nicht der Wirtschaft oder den Politikern gehöre, sondern den Bürgern und Arbeitnehmern. Das gelte auch auf kommunaler Ebene. "Das, was die Bürgerinnen und Bürger nutzen, muss auch in unserer Hand bleiben", sagte Engel und warb für Unterschriften für die Bürgerbegehren für den Verbleib des Verkehrsunternehmens mobiel bei den Stadtwerken sowie den Erhalt der städtischen Mehrheitsbeteiligung an dem Konzern. "Wenn es uns jetzt nicht gelingt, eine große, breite Bürgerbewegung dafür zu schaffen, kann es nach den Kommunalwahlen ganz anders aussehen", warnte Engel.

Auch Bürgermeister Horst Grube (SPD) sprach sich für einen Erhalt der bisherigen Konzernstruktur bei den Stadtwerken aus. "Das beste Pferd im Stall dürfen wir nicht verkaufen", forderte Grube, der Pfiffe und den Zwischenruf "Blanker Hohn" erntete, als er von der Verantwortung der Kommune für Arbeits- und Ausbildungsplätze sprach. Grube kündigte für Mai eine Initiative im Rat der Stadt an: "Wir wollen fragen, ob die Stadt nicht mehr Arbeits- und vor allem Ausbildungsplätze schaffen kann."

Wend erntet Pfiffe

Weitere Pfiffe gab es, als Roland Engel auch den "Kollegen Rainer Wend" begrüßte. Der SPD-Bundestagsabgeordnete bekam später auch Schelte von Paul Stern von attac. Das ver.di-Mitglied erinnerte daran, dass im Bundestag auch Gewerkschafter für die so genannte Agenda 2010 stimmten, was seiner Meinung nach eine Schande für die Gewerkschaftsbewegung ist. Auch die kritisierte Stern. Sie habe viel zu spät auf die Pläne der Bundesregierung reagiert, Demonstrationen hätte es schon vor der Verabschiedung der Agenda 2010 geben müssen. "Wo waren da die Gewerkschaften", fragte Stern.

Die hatten erst am 3. April zu Großdemonstrationen gegen den Sozialabbau aufgerufen, als der schon längst beschlossene Sache war. "Mit uns sind 500.000 aufgestanden für ein soziales Deutschland", wertete Andreas Steppuhn die Demonstrationen vor einem Monat als Erfolg der Gewerkschaften. "Es muss endlich Schluss sein mit einer falschen Politik nach dem Motto: Den Armen nehmen und den Reichen geben", forderte er im Ravensberger Park und wies darauf hin, dass diese falsche Politik nach Empfehlungen von "von niemandem gewählten Beratern" gemacht werde. "Hunderttausende Jobs sind aus der Sozialversicherungspflicht herausgenommen worden", so Steppuhns Bilanz der bisherigen von den Beratern Hartz und Rürup empfohlenen Reformen der Bundesregierung. Die würden auch die Kaufkraft der Arbeitnehmer senken. Die unterschiedliche Entwicklung von Exporten und Binnennachfrage "muss einem doch zu denken geben", findet Steppuhn.

Die Gewerkschaften sieht er aber kompromissbereit: "Auch wir halten am Sozialstaat einiges für reformbedürftig. Wir wären auch bereit Kröten zu schlucken", signalisierte er der Politik. Die Antwort auf die Probleme dürfe dabei aber nicht die Verschonung der Leistungsfähigsten sein, vielmehr müssten diese stärker belastet werden. "Wenn ein Arbeitnehmer 1.100 Euro verdient und 80 Euro für die Krankenkasse zahlt, bleiben ihm 1.020 Euro. Wenn Herr Ackermann von den 11 Millionen, die er gekriegt hat, denselben Anteil bezahlt, bleiben ihm immer noch 10,2 Millionen", rechnete er die unterschiedliche Verteilung der Lasten vor. "Dieses muss sich ändern, nicht nur wegen der sozialen Gerechtigkeit, sondern auch um den Sozialstaat zu erhalten", forderte Steppuhn und lobte das Schweizer Modell der Bürgerversicherung, in der jeder Bürger, unabhängig vom Einkommen, einzahlen müsse.

Niedriglöhne und Arbeitszeitverlängerung sind seiner Meinung nach keine geeigneten Mittel um neue Arbeitsplätze zu schaffen und für wirtschaftlichen Aufschwung zu sorgen. "Wenn das so wäre, wäre Afrika das Zentrum der Weltwirtschaft und der Osten Deutschlands weit vor dem Westen", untermauerte er seine These. "Mit der Forderung nach Niedriglöhnen und längerer Arbeitszeit kämpft der Unternehmer nicht für Arbeitsplätze sondern für sein eigenes Einkommen", rief er den Anwesenden die Interessen in Erinnerung.

Rot-grün als kleineres Übel

Die "lieben Genossen in Berlin" warnte Steppuhn vor den Folgen dieser falschen Politik: "Der Volksmund sagt, Hochmut kommt vor dem Fall. Wollt ihr euch ein neues Volk wählen oder auf eure Basis hören?" Würden die Reformen nicht korrigiert werden, blieben die Wähler bei den Bundestagswahlen 2006 zu Hause und die Opposition würde ohne Stimmenzuwachs die Macht übernehmen. Rot-grün sei zur Zeit zwar das kleinere Übel, aber dennoch übel.

Steppuhn machte aber auch klar, wie übel Stoiber, Merkel und Co für ihn sind. "Das sind Triebtäter. Wenn die die Macht übernehmen, wird Deutschland zu einem Paradies für Reiche und zu einem Arbeitslager für alle anderen", kritisierte Steppuhn die Vorschläge der Opposition zur Reform des Arbeitsmarktes. Die von Friedrich Merz vorgeschlagene Steuerreform passe zudem tatsächlich auf einen Bierdeckel. "Einkommensschwache zahlen mehr, Reiche können alles absetzen", so Steppuhns Einschätzung.

Zum Schluss seiner Rede ging das Vorstandsmitglied der IG Bau auf die an diesem Tag vollzogenen Beitritte osteuropäischer Staaten zur EU ein. Die Gewerkschaften seien zwar grundsätzlich dafür, nur das Wie stimme nicht. Die Wirtschaft wolle vor allem Deregulierung. "Es wurde nur darauf geschaut, dass eine Marktwirtschaft entsteht, das Wort "sozial" kommt da nicht mehr vor", kritisierte Steppuhn. Auch dürften Steuermodelle wie in der Slowakei, wo Reiche und Unternehmen nur 19 Prozent Steuern zahlen würden, sich nicht durchsetzen. "Wir müssen denen dann die Straßen teeren", prognostizierte der Mann von der IG Bau, der aber betonte: "Nicht die Beschäftigten in den ärmeren Ländern sind unsere Gegner, sondern die, die deren Notlage ausnützen."

Stern für gesetzlichen Mindestlohn

Die kämpferischste und am meisten beklatschte Rede hielt abschließend Paul Stern, der Worte wie "das Kapital" benutzte. Dem reiche die Agenda 2010 noch nicht, sagte er und erinnerte daran, dass Hans-Werner Sinn vom Institut für Wirtschaftsforschung eine Senkung der Bruttolöhne um zehn bis fünfzehn Prozent fordere. "Das hat die Deutsche Bank auch gefordert. 1929", wusste Stern zu berichten.

Zu den Angriffen auf Erwerbslose sagte er, dass nicht die faul seien: "Faul ist das Wirtschaftssystem, wenn es mit so vielen Menschen nichts anzufangen weiß." Die Gewerkschaften müssten begreifen, dass sie auch die Sozialhilfe und nicht nur Tarifverträge verteidigen müssten, da diese so etwas wie ein Mindestlohn sei. Ein solcher müsse gesetzlich festgeschrieben werden. Zehn Euro pro Stunde müssten es sein, die Realität sehe aber ganz anders aus. "Da gibt es Menschen in Thüringen, die arbeiten für 2,40 Euro in Nähstuben", beschrieb Stern die Realität.

Wie die anderen Redner ging auch er auf die EU-Erweiterung ein und rief wie zuvor Andreas Steppuhn dazu auf eine starke europäische Gewerkschaftsbewegung zu schaffen. Wie seine Vorredner äußerte auch er Kritik an der EU: "Wir brauchen nicht diese EU mit dieser Verfassung, in der der neoliberale Weg fortgeschrieben wird", rief Stern unter dem Applaus der Zuhörer. Denn in der gebe es zum Beispiel kein einheitliches europäisches Streikrecht. "Zu einem Europa der Banken und Konzerne sagen wir klar Nein", erklärte Stern. "Menschen sind in diesem System Nebensache. Treten wir dafür ein, dass sich die Menschen zur Hauptsache machen und nicht mehr ein Spielball der Märkte sind", formulierte Stern. Dafür hätte er wohl auch die Zustimmung der Demonstranten mit dem antikapitalistischen Transparent bekommen. Aber die saßen da schon zu Hause auf dem Sofa.


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