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Bad Oeynhausener Kurier / Neue Westfälische ,
03.05.2004 :
Das elfte Gebot: Du sollst leben! / Sally Perel erzählt in der Druckerei seine Geschichte als "Hitlerjunge Salomon" / Wiedersehen mit einem Mitschüler aus Werste
Bad Oeynhausen (ulf). Ein fester Schritt und Sally Perel steht auf der Bühne. Ein freundlicher alter Mann mit grauem Haar tritt da entschlossen ins Rampenlicht der Druckerei und mit ihm eine unglaubliche Geschichte: Sally Perel war der Hitlerjunge Salomon. Der Jude Salomon überlebte die Vernichtung der europäischen Juden als Hitlerjunge Jupp. Am Freitagabend erzählte Perel seine Geschichte.
Mehr als 40 Jahre hat er geschwiegen. Nicht einmal seinen Söhnen hat Perel seine wahre Geschichte erzählt. Doch seit einigen Jahren erzählt er von der Zeit seiner Jugend, er spricht vor Jugendlichen, meist sind es Schulklassen (zuletzt auch in Bad Oeynhausen), er fliegt von Israel nach Deutschland, erzählt seine Geschichte und er zieht seine Zuhörer in den Bann. In der Druckerei spricht er frei, sein Buch bleibt zwei Stunden lang geschlossen.
Sally Perel ist ein guter Erzähler. Sein Bericht ist keine Aneinandereihung von Zahlen und Fakten, es ist auch keine moralinsaure Predigt. Das Haar mag grau sein, doch der Geist darunter ist wach. Der 79-jährige Perel holt die Zuhörer da ab, wo sie sind und nimmt sie mit auf eine Zeitreise in seine Jugend und die mehr als 80 Hörer folgen seinen Lippen.
Er führt sie zurück in eine unbeschwerte Zeit in Peine bei Braunschweig. Zehn glückliche Kinderjahre hat Sally Perel dort verbracht, bis der Schulleiter ihn von der Schule schmiss, weil er Jude war. Damit brach für den zehnjährigen Sally eine Welt zusammen, er floh mit seinen Eltern vor den Nazis nach Lodz in Polen. Vergeblich.
Bald standen die Schergen auch in Lodz und der kleine Salomon sollte als "arbeitsunfähiger Jude" getötet werden. Seine Eltern wollen das nicht zulassen und schicken ihn weg in ein Weisenhaus.
Die Trennung von seinen Eltern, das ist ein Moment, den Sally Perel besonders ausführlich erzählt. "Mein Vater sagte: ,Sally, vergiss nie, wer du bist’", erzählt Perel: "Meine Mutter aber sagte: ,Du sollst leben!’"
Das waren die Abschiedsworte seiner Eltern. Für den jungen Sally Perel wurden sie zu einer Frage von Leben oder Tod. In Weißrussland holte die deutsche Wehrmacht Perel ein. Die Zivilbevölkerung wurde gefilzt, Juden und Politkommissare der Roten Armee von Sonderkommandos sofort erschossen. "Ein Soldat fragte mich: ,Bist Du Jude?’", sagt Perel und hält kurz inne: "Was hätte ich sagen sollen? Ja, ich bin Jude, so wie mein Vater es mir gesagt hat?"
Nein, Sally Perel entschied sich für das Leben. ",Du sollst Leben!’, hat meine Mutter gesagt. Das ist für mich zum elften Gebot geworden", sagt Perel und fügt leise hinzu: "Papa, verzeih’ mir! Ich konnte deinen Wunsch nicht erfüllen." Ab diesem Moment ist Sally nicht mehr Sally, sondern Jupp, ein Volksdeutscher Waisenjunge. Über Umwege an der Front (er übersetzt für die Wehrmacht ins Russische, meist Todesurteile gegen "Flintenweiber" und vermeintliche Partisanen) kommt er zurück nach Deutschland, heim ins Reich. Jupp wird Hitlerjunge, lernt in einer Schule des Volkswagenwerkes bei Braunschweig, marschiert, singt und denkt wie einer von ihnen. "Als ich ,Heil Hitler!’ schrie, wurden meine Glaubensbrüder in Auschwitz vergast."
Ein Kamerad von damals ist zu seiner Lesung in die Druckerei gekommen. Der Mann ist 78 Jahre alt, war mit Perel an der gleichen Schule, aber die Zeit dort hat er ganz anders in Erinnerung. "Das war ein Vorzeige-Ausbildungsbetrieb", sagt der Werster, der auf keinen Fall in die Zeitung möchte: "Die Ausbildung war in der Weserhütte hoch angesehen."
Das Buch "Hitlerjunge Salomon" hat er vor zwei Jahren gelesen, es klemmt unter seinem Arm, während er in in der Schlange auf ein Autogramm seines ehemaligen Mitschülers wartet. Auf der Schule sind sie einander vielleicht nie begegnet, aber in der Druckerei tauschen die alten Kameraden Erinnerungen aus. Der Werster hat Fotos mitgebracht: "Erinnerst du dich noch an das Haus Nummer sieben?"
Klar kann sich Sally Perel erinnern. Eine ganze Weile unterhalten sich die beiden. Der Kamerad aus Werste stimmt plötzlich ein Lied an. "Erinnerst du dich?" Nein, Perel schüttelt den Kopf und sein Gesicht verfinstert sich. "Aber erinnerst du dich noch an das Lied: ,Wenn das Judenblut vom Messer spritzt?’ Das haben wir immer gesungen", sagt Perel und singt es noch einmal an diesem Freitagabend im Begegnungszentrum Druckerei.
lok-red.oeynhausen@neue-westfaelische.de
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