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Lippische Landes-Zeitung , 30.06.1999 :

Professor Matthias Kellig engagiert sich für das Theresienstadt-Archiv / Zeugnisse aus dem Ghetto für die Nachwelt erhalten

Detmold (da). Es gibt ein Leben neben der Musik - und nicht nur ein privates. Der renommierte Pianist Matthias Kellig, Professor an der Hochschule für Musik in Detmold, setzt sich seit vielen Jahren für ein Projekt in Israel ein, das in der Bundesrepublik sehr zu seinem Leidwesen wenig bekannt, gleichwohl mit der deutschen Geschichte eng verbunden ist. Es geht um die Förderung des Archivs Beth Theresienstadt im Kibbutz Givat Chaim-Ichud, wo zahlreiche Dokumente und Gegenstände aus dem ehemaligen "Vorzeige-Ghetto" der Nationalsozialisten in der Nähe von Prag aufbewahrt werden.

Was liegt für einen Musiker näher, als über seinen Beruf für sein Anliegen zu werben? Erst in diesem Frühjahr gab Kellig während eines Aufenthalts in Argentinien mehrere Benefizkonzerte, knüpfte in der Hauptstadt Buenos Aires viele persönliche Kontakte zur größten jüdischen Gemeinde außerhalb Israels und New Yorks. Und er erlebte bewegende Momente mit Überlebenden aus Ghettos und Konzentrationslagern, die ihn in seiner Überzeugung bestärkten, in den Bemühungen um den Erhalt der Einrichtung und die Sicherung der Bestände nicht nachzulassen.

Beth Theresienstadt, 1975 von Überlebenden des Holocaust eröffnet, "ist nicht irgendein Archiv", sagt Kellig, der die Leiterin Alisah Schiller während einer seiner regelmäßigen Konzertreisen nach Israel kennengelernt hat. Dort werden neben Daten von rund 150.000 jüdischen Ghettohäftlingen zahlreiche Zeugnisse einer vielfältigen kulturellen Tätigkeit aufbewahrt, die trotz Überbevölkerung, hoher Sterblichkeit und ständiger Angst vor dem Abtransport in die Vernichtungslager eine unglaubliche Vielfalt entwickelte. Zur Sammlung gehören unter anderem rund 200 Bilder verschiedener Künstlerinnen und Künstler, außerdem Theaterstücke, Kompositionen, Gedichte. Dazu kommen 300 Kinderzeichnungen, außerdem Handarbeiten, Marionetten, Tagebücher und vieles andere mehr.

All dies, meint Kellig, solle einmal im Rahmen einer Wanderausstellung rund um die Welt geschickt werden. Musikalische Werke sollten von Orchestern aufgeführt, Theaterstücke auf die Bühne gebracht werden. Doch viele der wertvollen Exponate sind in schlechtem Zustand, drohen für immer verloren zu gehen. Nicht nur, dass kein Geld für eine grundlegende Forschungsarbeit vorhanden ist, selbst Katalogisierung und Konservierung können nicht geleistet werden. Diesen Prozess aufzuhalten, ist das ganz persönliche Anliegen des Detmolders.

Der Staat Israel tut, was er kann, ist Kellig überzeugt, doch sieht er es als Verpflichtung gerade der Deutschen an, diese Arbeit intensiv zu fördern. Dass dafür angesichts der im Mittelpunkt stehenden Großprojekte wie dem Holocaust-Denkmal in Berlin nicht genügend finanzielle Mittel zur Verfügung stehen könnten, ist schon eine Befürchtung, die ihn umtreibt. Gerade erst hat er Kulturstaatsminister Dr. Michael Naumann angeschrieben und eine ernüchternde Antwort ("Für Projekte im Ausland nicht zuständig") bekommen. Auch wenn ihn so etwas zutiefst empört, Kellig wird keinesfalls aufgeben.

Als Künstler hat er in all den Jahren eine starke innere Beziehung zu diesem Projekt und vielen der damit befassten Menschen entwickelt. Die Vorstellung, dass die Ereignisse von Theresienstadt einmal in den Geschichtsbüchern verschwinden könnten, ohne dass die Arbeit der noch Lebenden zum Abschluss gebracht werden kann, macht Kellig große Sorgen.

Das Stichwort / Theresienstadt

Das jüdische Ghetto Theresienstadt in Nordböhmen, 60 Kilometer von Prag entfernt, wurde Ende 1941 errichtet. Der Grundriss der Festungsstadt aus dem 18. Jahrhundert mit ihren Wällen und Wassergräben erschien den Nazis für diesen Zweck günstig. Von Anfang an - und erst recht nach der Wannseekonferenz im Januar 1942 - war das Ghetto Durchgangsstation auf dem Wege zur Ermordung. Von rund 150.000 Menschen, die durch Theresienstadt gingen, starben 35.000 an Ort und Stelle, fast 90.000 in den Vernichtungslagern.

Trotz widriger Umstände - 50.000 Menschen lebten in der für 7.000 Einwohner gebauten Stadt - entwickelte sich ein intensives kulturelles Leben: erstklassige Fachleute hielten Vorträge, Theater-, Konzert- und Opernaufführungen fanden in Kellern und auf Dachböden statt; Maler verewigten Szenen aus dem Ghettoleben. Die Nazis nutzten dies für ihre Propaganda, erklärten Theresienstadt 1943
zum "Musterghetto", das sogar einer internationalen Rotkreuz-Delegation vorgeführt wurde. Im Herbst 1944 wurde ein Großteil der Männer, der Jugendlichen und Kinder nach Auschwitz deportiert.


Detmold@lz-online.de

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