Stattzeitung Kassel/Göttingen ,
02.01.1988 :
"10 Monate" im 5. Radikal-Prozess
Am 08.12. und 14.12.1987 fand vor dem 5. Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts in Düsseldorf der mittlerweile 5. Prozess wegen angeblicher Verbreitung der Zeitschrift "Radikal" 132 statt. Angeklagt war ein angebliches Mitglied des Buchladenkollektivs "Distel" aus Detmold. Das Urteil nach zwei Tagen ist das bisher härteste, ein Gesinnungsurteil aus dem Lehrbuch der Gesinnungsjustiz. Der Angeklagte wurde zu 10 Monaten Haft, ausgesetzt auf 4 Jahre zur Bewährung, sowie 1.000 Mark Geldbuße verurteilt. Wir haben den Prozess besucht und berichten über den Verlauf.
Im Rahmen der bundesweiten Durchsuchungs- und Beschlagnahmungswelle in Sachen Radikal wurde am 31.07.1986 der Buchladen "Distel" von den Detmolder Bullen durchsucht. Sie fanden vier der - von ihnen selbst mitgebrachten - Exemplare der Radikal 132 (Prozessflugblatt Buchladen). Am 13.01.1987 fand eine Durchsuchung der Wohnung des Angeklagten durch das LKA statt. Hier wurden u.a. die Radikal 132, De Knispelkrant und das Blättle beschlagnahmt.
1. Prozesstag
In der bekannten Stammheim-Atmosphäre (abgeschirmtes Sondergebäude, Bullen mit MP, Durchsuchung der Öffentkichkeit, des Angeklagten, des Anwalts, Fotokopieren der Personalausweise, Freibrief des Gerichts für die im Sitzungssaal anwesenden Bullen zur Entfernung von "StörerInnen" etc.) wurde ein Gesinnungsprozess mit "terroristischen Hintergrund" durchgezogen. Als erster Zeuge tritt BKA-Bulle Nietrug auf, der die Ermittlungen gegen Radikal 132 leitet. Er sagte "nur" zum Gesamtverfahren aus.
Nun wurde der Postbeamte vernommen, der die Pakete zum Buchladen bringt. Er sagte aus: " ... das er mit dem Buchladen eine Abmachung habe. Da der Laden um 8.30 Uhr immer noch geschlossen sei, habe er einen Schlüssel bekommen. Er stelle die Pakete im Laden ab, nehme das Geld aus einer Dose, lege die Quittung rein und verschließe den Laden wieder. Er habe so in der ganzen Zeit nie jemanden gesehen". Frage des Vorsitzenden: "Mit wem haben Sie seinerzeit die Abmachung getroffen?" Antwort: "Das weiß ich nicht mehr. Ich sehe soviel Leute täglich. Die Person war männlich ."
Der nächste Zeuge war ein örtlicher Bulle, der eine Woche vor der Durchsuchung einen Probekauf im Buchladen getätigt haben will. Auf fünf verschiedenen ED-Fotos, die ihm hinterher im Präsidium vorgelegt wurden, will er den Angeklagten als den erkannt haben, der das Geld für Radikal entgegennahm. Darüber schreibt er eine Woche später (!) einen Vermerk. Er sagte u.a. aus: " ... das er sich bei der Vorladung zur Verhandlungnicht mehr an den Namen des Angeklagten erinnern konnte, er hätte keinen Zusammenhang herstellen können. Er wäre nur einmal zum Probekauf im Buchladen gewesen und er könne sich heute an keine Merkmale des Angeklagten mehr erinnern. Auch erkenne er ihn nicht wieder. Er könne nur sagen, das es eine männliche Person gewesen sei, der er die Radikal (Teil 1 und 2) gegeben habe." Darauf der Vorsitzende: "Damit werden wir uns nicht zufrieden geben." Er bohrte weiter: "War er größer oder kleiner?" Darauf der Zeuge: "Kleiner". Vorsitzender: "Standen Sie ihm gegenüber oder saß er am Schreibtisch?" Zeuge: "Er saß am Schreibtisch." Vorsitzender darauf verärgert: "Das ist nichts. Anatomisch gibt es klein- und großwüchsige Menschen." Auch auf andere Einzelheiten wie Haarfarbe, Gesichtsausdruck etc. kann sich der Zeuge nicht mehr erinnern.
Als vierter Zeuge wird der Oberbulle aus Detmold, der bei der Durchsuchung am 31.07. die Leitung hatte, vernommen. Der Vorsitzende fragt ihn nach der Durchsuchung. Er sagt: " ... das sie in einem hinteren Raum 4 Exemplare der Radikal 132 gefunden hätten, außerdem im Laden ein Bekennerschreiben der RAF zum Beckurts-Anschlag. Der Angeklagte sei im Laden anwesend gewesen. Er hätte den Eindruck gehabt, das er mit der Durchsuchung gerechnet habe. Er hätte ihn gefragt, ob er Exemplare der Radikal hätte." Der Angeklagte sagte ihm aber: "Nein, dann sucht mal schön."
2. Prozesstag
Es wird der LKA-Bulle vernommen, der die Durchsuchung am 13.01. in der Wohnung des Angeklagten geleitet hat. Er sagte aus: "Ich war mehrmals in Detmold. Dabei habe ich auch immer den Buchladen aufgesucht. Betreten habe ich ihn aber nie. Ich habe immer nur durch das Fenster in den Laden gesehen. Dabei habe ich zweimal den Angeklagten, den ich durch Ed-Fotos (aus dem Jahr 1980) kannte, am Schreibtisch sitzen gesehen (nach dem 31.07.1986). Bei der Wohnungsdurchsuchung habe ihm der Angeklagte geöffnet. Ich hatte das Gefühl einen alten Freund zu treffen! Ich habe ihm den Durchsuchungsbefehl ausgehändigt. Der Angeklagte habe ihm gegenüber nur zwei Wünsche geäußert. 1. Er solle seinen Anwalt anrufen. 2. Machen Sie bitte schnell, ich muß dann bald zum Buchladen Distel zum Ladendienst, so wie jeden morgen." Diese Aussage ist eine klare Lüge des LKA-Bullen!
Nach der Zeugenvernehmung regt der Senat an, die Strafverfolgung einer Straftat nach § 129a auf Werbung zu beschränken. Und zwar Werben für RAF und RZ. Staatsanwältin stimmt dem zu. Alle Anträge des Verteidigers im Prozess werden abgelehnt. Nach der Mittagspause wird die Beweisaufnahme geschlossen. Als die Staatsanwältin aufsteht, stehen die anwesende Öffentlichkeit, sowie die Bullen auch auf. Die Öffentlichkeit unterbricht das beginnende Plädoyer mit dem Rufen der Parole: "Das letzte Wort wird nicht im Gericht gesprochen." Untergehagt und unter weitrufen der Parole, sowie Abschiedsgrüße an den Angeklagten wird der Gerichtssaal langsam verlassen. Die Schließer und Zivibullen drängen die Öffentlichkeit aus dem Saal.
Nachdem der Saal geräumt ist verlangt die Staatsanwältin in ihrem Plädoyer 10 Monate Haft, ausgesetzt auf 5 Jahre Bewährung. Der Probekäufer hätte den Angeklagten erkannt.
Der Verteidiger verlangte Freispruch für den Angeklagten, da weder ein Tatnachweis erbracht worden sei, noch sonstige Nachweise der Schuld erbracht seien.
Das Urteil
Unter dem weiterem Ausschluss der Öffentlichkeit verkündet das Gericht das Gesinnungsurteil von 10 Monaten Haft, ausgesetzt auf 4 Jahre Bewährung, sowie 1.000 DM Geldbuße. Es führt folgende 5 Punkte in der mündlichen Begründung an:
1. Das Paket mit den Exemplaren der Radikal 132 hat den Buchladen "Distel" erreicht. Der Nachweis sei durch den Postbeamten erbracht, der Pakete in den Buchladen bringt, sowie die beschlagnahmte Paketkarte.
2. Es sei bewiesen, das der Buchladen "Distel" die Radikal vertrieben hat. Der Nachweis sei durch den Probekauf und durch die bei der Durchsuchung beschlagnahmten 4 Exemplare erbracht.
3. Der Nachweis, das der Angeklagte am Betrieb des Buchladens beteiligt gewesen ist. Der Zeuge, der den Probekauf getätigt habe, habe ihn zwar nicht identifiziert, aber folgende 3 Unterpunkte belegten dies.
a. Bei der Durchsuchung am 31.07.1986 hat er durch die Äußerung: "Nun sucht mal schön" negiert, das er zum Laden gehört.
b. Aussage des LKA-Bullen, das er ihn zweimal wiedererkannt hat. Erstens hat er ihn zweimal im Buchladen gesehen und bei der Hausdurchsuchung, Zitat: "Hatte das Gefühl, einen alten Freund zu treffen" und seine Aussage ihm gegenüber, das er gleich in den Buchladen müsse. Das ergebe sich nicht aus seinem nach der Durchsuchung gefertigten Vermerk (wo das Zitat nicht auftaucht), sondern durch seine Erinnerung in der Hauptverhandlung.
c. Die Postvollmacht für den Buchladen auf seinen Namen (allerdings Zeitraum nach dem 31.07.1986). In der Gesamtbetrachtung sei seine Mittäterschaft am Vertrieb dadurch nachgewiesen.
4. Das er Kenntnis hatte vom Inhalt der Radikal 132, ergebe sich aus den bei ihm gefundenen Schriften mit Inhalten aus der terroristischen Szene. Auch in Verbindung mit seinem Gesamtverhalten vor Gericht zeigt, das er Kenntnis vom Inhalt hatte (der Angeklagte saß immer mit dem Rücken zum Gericht).
5. Das der Inhalt der Radikal 132 selbst eine Werbung nach 129a darstellt, sei selbstverständlich und brauche nicht näher diskutiert werden.
Zu der Frage Freiheitsstrafe ja oder nein, führte der Senat aus, das man sich damit sehr schwer getan hätte. Laut BGH-Urteil von 1977 sei dies nur in Ausnahmen möglich. Aber sein dümmliches Verhalten vor Gericht (mit dem Rücken zum Senat gesessen) spricht dafür, das es sich bei ihm nur um ein zeitweises Fehlverhalten handeln würde und er deshalb noch nicht als Sympathisant des Terrors anzusehen sei. Deshalb sei die Strafe auf Bewährung ausgesetzt worden. Der Angeklagte gab gegenüber dem Gericht keine Erklärung ab. Die Verteidigung will in Revision gehen.
|