www.hiergeblieben.de

Professor Vittore Bocchetta , 10.11.2001 :

Ein Zeitzeuge berichtet / Vortrag auf dem Symposium “Von Italien nach Auschwitz – Fossoli und Bozen: Stationen der Deportation 1944/45“ im Nordrhein-Westfälischen Staatsarchiv Detmold

Man hat mich gebeten, hier über meine Erfahrungen als ehemaliger Deportierter in die nationalsozialistischen Lager zu berichten. Ich betrachte es als Verpflichtung gegenüber der gesamten Menschheit, weil diese Erfahrung, der es uns gelungen ist zu überleben, uns dazu verpflichtet nicht zu vergessen.

Ich hoffe nur – doch bin mir darüber nicht ganz sicher -, dass diese historische Ermahnung mehr als Rhetorik ist.

Denn, das was ich gesehen habe, was ich empfunden habe, das was unglaublicherweise geschehen ist, könnte zu einer pragmatischen Lektion des Bösen werden.

Da ich mich zu einer längeren Rede nicht in der Lage sehe, möchte ich Ihnen die Lesung zweier Auszüge aus meinem Erinnerungsbuch "Quinquennio infame" ("Die schändlichen fünf Jahre") vortragen.

Die nackten Gespenster des Krematoriums von Flossenbürg

" ... Dieser Teil des Lagers – wie ich später erfahre – ist das Quarantänelager. Einer der vielen deutschen Grundsätze: die Quarantäne – eine einfache Maßnahme gegen eine vermeintliche Epidemie. Es ist richtig und plausibel, dass die Quarantäne eine Ortschaft von 70.000 Einwohnern isoliert. Aber in unserem Fall, welchen Sinn kann diese Prophylaxe von 70.000 zum Tod geweihten haben? Unlogische nationalsozialistische Logik!

Hier gibt es auch deutsche Gefangene, Hunde und Posten (Wachen der Wehrmacht), die sicherlich nicht immun sind gegen unsere Pest! Von dieser Baracke erstreckt sich ein weitläufiger, mit einem Drahtzaun umzäunter Hof. Dahinter steht die Bergwand. Der Hof ist ein Halbkreis aus festgetretener und schlammiger Erde, der an einem steilen Fels endet. Flucht ist vollkommen ausgeschlossen. Am Fuße des steilen Felsens kann man ein graues Gebäude erkennen, Typ Industriehalle, überragt von einem Kamin, der ohne Ende schwarzen Rauch ausspuckt, und einen Geruch, den ich nie mehr aus meiner Erinnerung verbannen werde können: Es ist der Ofen des Krematoriums."

"Am Rande des Vorsprungs gibt es das, was sie schändlich als Latrine bezeichnen: ein langer rechteckiger Graben unter einem Wellblechdach. Die Ausdünstungen übersteigen jegliche Vorstellungskraft. Genauso wie das Benutzen eine Herausforderung an den Tod selbst für die Bewandertsten ist: du musst versuchen deine Notdurft zu erledigen, ohne zu sehr in die Knie zu gehen und nicht auf dem glatten Boden auszurutschen, es ist eine Übung des angstvollen Gleichgewichts; wer fällt stirbt und wie er stirbt!

Rund um das Loch – auf dem schmierigen Zeug – ist ein zunehmender und abnehmender erschütternder Haufen nackter Kadaver aufgetürmt. Wenn, was häufig passiert, die Körper den ganzen Boden bedecken, müssen wir über sie rüber steigen, dabei treten wir auf sie, um den Rand zu erreichen; um nicht zu fallen, kann man sich an den Füssen und Armen, die einem am nächsten sind, festhalten.

Die Anhäufung von Kadavern bleibt mehr oder minder in konstantem Maß wegen des Abtransports bzw. Hintransports durch die Arbeitskommandos der Leichenträger, die kontinuierlich mit leeren Bahren hineinkommen und mit vollen Bahren hinausgehen. Von der Höhe des Vorsprungs können wir ihr Gewimmel, was hinauf- und hinabgeht, über einen sich schlängelnden Weg sehen.

Manchmal, gemeinsam mit den Arbeitskommandos laufen torkelnd, mit unsicheren Schritten, unglaublich real, fast lebendige Gespenster.

Sie gehen voran vollständig unbekleidet, die Glieder bis auf die Knochen reduziert und der Schädel erschreckend gelöchert von zwei riesigen gläsernen, ins Leere gerichteten Augen.

Sie erreichen mit letzter Kraft die Latrine und hier lassen sie sich dann erschöpft fallen. Die Arbeitskommandos richten sie zum Sitzen auf gegen die Mauer, einen gegen den anderen gelehnt. Sie haben keine Seele mehr, aber sie sind noch nicht tot.

Morgens finden die Arbeitskommandos sie vor, wie sie sie verlassen haben. Später, werden sie durch einen Beauftragten unter ein bisschen eiskaltes Wasser gesetzt, damit sie dort unbeweglich verbleiben: sie sind bereit, sie werden aufeinander und untereinander, fünf oder sechs auf einmal auf Bahren geladen und ganz langsam windet sich die Kolonne dann den Weg hinunter, über das Kiesbett im Tal hinüber, um dann abgelegt zu werden auf den Haufen der zu verbrennenden.

Ich folge ihnen öfters bis zum Ausgang und sehe dabei, dass mancher Fuß sich noch bewegt.

Unser Mitleid ist hinter ihnen erloschen."




Vittore Bocchetta, 1918 geboren, seit 1940 aktiver Kämpfer im Veroneser Antifaschismus, ab 1941 Verfolgung durch den Faschismus.

Im November 1943, nach zahlreichen Gefängnisaufenthalten, teilt er die Gefängniszelle mit einer Gruppe des CLN der Provinz Verona. Aus der Haft entlassen tritt er ab März 1944 dem CLN bei und beginnt mit Erfolg seine Überzeugungsarbeit unter den Jugendlichen.

Im Juli desselben Jahres wird er von den Faschisten der Republik von Salò verhaftet und an die Deutschen übergeben und kommt am 4. September zusammen mit anderen 20 Häftlingen – Politische, Zuchthäusler und Marinesoldaten – in das Lager von Bozen. Dort wird er mit den anderen zusammen in ein stallähnliches Gebäude gesperrt, umzäunt mit Stacheldraht: ein Gefängnis innerhalb des Lagers. Am nächsten Morgen werden die sechs Marinesoldaten erschossen.

Die sieben politischen Gefangenen kommen in das Konzentrationslager Flossenbürg und von dort aus nach Hersbruck. Dort bleibt Bocchetta acht Monate unter unmenschlichen Bedingungen inhaftiert.

In den letzten Kriegstagen werden die Häftlinge, die noch laufen können, von den Nazis in Marsch gesetzt, da die Ankunft der Alliierten unmittelbar bevorstand. Vittore Bocchetta gelingt es zusammen mit einigen anderen zu fliehen und in das nächst gelegene Kriegsgefangenenlager zu gelangen. Englische Soldaten kümmern sich um ihn, aber seine physische Erschöpfung ist so groß, dass er lange Zeit ohne Bewusstsein bleibt. Langsam gelingt es ihm, sich zu erholen. Er wird gewogen und gemessen: 48 Kilogramm und 1 Meter 80 groß. Erst im Juli 1945 kann er nach Italien zurückkehren.

Der italienischen Nachkriegspolitik stand er jedoch sehr bald kritisch gegenüber. Er wandert aus und geht nach Argentinien, später nach Venezuela, 1958 in die Vereinigten Staaten.

An der Universität von Chicago studiert er ein zweites Mal und erhielt später die amerikanische Lehrbefähigung in "Vergleichender Literatur". Nachdem 1972 seine Skulpturen von der Öffentlichkeit anerkannt wurden, verließ er den Lehrstuhl und ging wieder zurück nach Italien. Dort veröffentlichte er historische und literarische Erzählungen; viele zum Thema Nationalsozialismus und Faschismus wie etwa "1940 bis 1945 – Die infamen 5 Jahre". Dieses Buch wird demnächst in deutscher Sprache erscheinen.


zurück